Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Schloss und Gut Ulrichshusen, landschaftlich malerisch im Mecklenburgischen zwischen Teterow und Waren gelegen, gehören zu den beliebtesten Veranstaltungsorten der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Und sie verkörpern eine Erfolgsgeschichte, die kaum jemand für möglich gehalten hatte. Einer aber schon und von Anfang an: Helmuth von Maltzahn, dessen Vorfahren seit hunderten von Jahren im Besitz des Schlosses Ulrichshusen waren und der nun, nach der Wende 1989, diesen nicht lange davor völlig ausgebrannten Renaissance-Bau als Ruine zurückkaufte. Und wieder aufbaute in einer dünn besiedelten Landschaft ohne Infrastruktur, in einem Dorf mit wenigen Häusern, nur 35 Einwohnern und einer gigantischen, ruinösen Feldscheune. Maltzahn, Visionär und Macher mit einschlägigen Erfahrungen, sowie Justus Frantz und Matthias von Hülsen als nicht weniger erfahrenes musikalisches Gründerduo der Festspiele MV machten es möglich, das bereits am 6. August 1994 in besagter (und immer noch sehr reparaturbedürftigen) Scheune Lord Yehudi Menuhin als Dirigent des British Symphony Orchestra gastieren konnte. Das war der vielversprechende, nicht weniger visionäre Startschuss für einen Veranstaltungsort, der inzwischen nicht nur die erwähnte Konzertscheune mit rund 1000 Plätzen, einen Schlosssaal mit 350 Plätzen sowie eine Remise für 500 Personen besitzt und zudem über eine Hotelkapazität von 120 Zimmern und entsprechend große gastronomische Versorgungsmöglichkeiten verfügt. Die Verantwortlichen sprechen gern und mit berechtigtem Stolz von der „Herzkammer“ oder – was den Charakter des Festspielortes besser kaum charakterisieren kann – vom „Wohnzimmer“ der Festspiele MV.
Seit 1994 ist Ulrichshusen ein jährlich massenhaft besuchter Konzertort, der nicht nur mit bewegter, auch bewegender Geschichte lockt, sondern in zahlreichen Konzerten die Spitzen internationaler Eliten präsentiert. Und das mit immer wieder beeindruckender Selbstverständlichkeit. Kein Wunder also, dass man vor kurzem, am 7. Juli, den 30. Jahrestag der „Geburt“ des Konzertortes Ulrichshusen so festlich wie familiär beging! Dazu war man – wenig verwunderlich – in Größenordnungen angereist und ließ bei hochsommerlichem Wetter diesen gelöst-locker und dennoch irgendwie magisch wirkenden Ort festlich erstrahlen. Was natürlich auch der Musik geschuldet war, die – neben den mit Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und dem Botschafter Polens in der Bundesrepublik auch (kultur)politisch sichtbar gesetzten Akzenten – den Tag auf unterschiedliche Weise prägte.
Dafür sorgten Meistergeiger Daniel Hope und Sebastian Knauer am Flügel als Gratulanten mit entsprechend auch „historischem“ Hintergrund: Hope, Schüler Menuhins!, gastierte erstmals 1995 in Ulrichshusen und tut es seitdem nahezu jährlich, und auch Knauer zählt bereits langjährig zur Interpretenfamilie. Was also lag näher, als den Festtag mit diesen beiden Protagonisten und einem ganz eigenen Programm so entspannt wie anspruchsvoll unterhaltsam zu beginnen, um ihn nachmittags mit dem Hope-Orchestra und begeisternd musikantisch präsentierten Streicherklängen zu beenden. Was auch hieß, den Einstieg in der großen, lichtdurchfluteten und dennoch heimelig wirkenden Remise als flott und humorig moderiertes, unorthodox stilistisch Unterschiedliches bündelndes Wohlfühlprogramm genießen zu dürfen. Wie auch nicht, wenn es im Wechsel der Stile und Ansprüche bunt hergeht. Da ist ein gedankenreicher Mozart (Klavier-Fantasie c-Moll KV 475), der mit so inspirierter wie musikantischer Folkloristik konterkariert wird (de Falla, Suite populaire espagnole für Violine und Klavier), gefolgt von einem musikalischen Märchen, in dem ein für die friedvolle Schönheit seiner heimatlichen Wiese schwärmender Stier namens Ferdinand (gesprochen von Sebastian Knauer) auf originelle Weise um ein sicher kurzes und anstrengendes Leben als Kampfstier herumkommt; geschrieben vom Amerikaner Munro Leaf 1936 und 1971 versehen mit einer überaus originell den Text kommentierenden Musik für Violine solo vom Engländer Alan Ridout. Zum Finale dann Gewichtiges mit sanglichem Eistieg der Violine: Mendelssohns Lied „Auf Flügeln des Gesangs“, gefolgt von Edvard Griegs überaus ambitionierter 3. Sonate für Violine und Klavier (c-Moll op. 45).
An Vielfalt musikalischer „Redeweisen“ war da also kein Mangel. Zusätzlich garantierten die künstlerischen Qualitäten der Interpreten, das auch die fernliegendst scheinende Möglichkeit differenziertester, auch raffiniertester Gestaltung nicht ausgelassen wurde. Ein wahres Vergnügen also, Interpretationen begleiten und nachvollziehen zu können, deren im Wortsinne prägnant „redend“ vermittelte und damit anschaulich gemachte „Informationsdichte“ Ohren wie kleine graue Zellen gleichermaßen zu ständiger Aktivität provozierten. Dies mal mehr, mal weniger spielerisch, immer bedacht, das auch im weniger Bedeutsamen vorhandene Wichtige zu betonen, ansonsten kontrastgeschärft, gestisch deutlich und fesselnd, leidenschaftlich , ungemein klang- und tonintensiv, melodisch zwingend sowie insgesamt höchst inspirierend, ja mitreißend.
Da passte es gut, dass danach und vor dem nächsten Höhepunkt eine so zwanglose wie informative Plauderei über die Geschichte des Ortes Ulrichshusen und dessen Werdegang als längst kultige Festspielstätte angeboten wurde. Matthias von Hülsen (Festspiele-Gründer) und Schlossherr Helmut von Maltzahn hatten da viel Unterhaltsames zu berichten, über Geschichte und mit Geschichtchen, die viel Staunenswertes enthielten. Und die – es reichten selbst Ansätze – verdeutlichen konnten, unter welchen Mühen Ulrichshusen zu dem wurde, was es ist: ein einmaliges musikkulturelles Kleinod .
Zu den räumlichen Preziosen zählt dabei vor allem die Konzertscheune, Schauplatz der finalen Gratulationscour von Daniel Hope und „seinem“ Hope-Orchestra. Es ist dies ein Kammerorchester, das wohl nicht nur, wie in Ulrichshusen, in Streicherbesetzung auftritt und jungen, meist schon preisgekrönten Nachwuchs mit Mitgliedern internationaler Spitzenorchester zusammenführt; vor Ort waren es diesmal 16 MusikerInnen aus 12 Nationen! Rechnet man den „Chef“ Daniel Hope sowie den zweiten Solisten Timothy Ridout (Viola) dazu, dann waren mehr Garantien für ein hinreißendes Musizieren kaum denkbar. Wofür denn auch ein Programm sprach, das an Attraktivität kaum noch zu überbieten war.
Helle Begeisterung im Saal schon bei Vivaldis h-Moll-Concerto grosso (RV 580) für vier Violinen, Streicher und B. c., dessen spritzige, ungemein energiegeladene Präsentation ein ruhiges Sitzenbleiben schon zur Willensanstrengung werden ließ. Balsam dann für Ohren und Seele bei einer Rarität, die dem Vergessen zu entreißen alle Mühen lohnt: Max Bruchs Konzert e-Moll für Violine, (orig. Klarinette), Viola und Streicher op. 88. Es ist dies Musterbeispiel für eine ausgereifte, musikhistorisch wohl verspätete, aber äußerst gekonnte und wirksame Spätromantik (1911). Diesbezüglich ungeniert und auf schönste Weise so unaufdringlich nobel wie überzeugend, besitzt dieses Werk alle Kennzeichen eines Meisterwerkes. Unnötig zu erwähnen, dass Solisten wie Ensemble das Ganze zum Prachtstück romantischen Lebensgefühls werden ließen, ohne jede Sentimentalität, voll glaubhaften Gefühls, betörender Zartheit, aber auch stürmischer, spielerischer Musizierfreude. Das kann schon mal süchtig machen!
Den großen Feger, wirbelnd, virtuos, nahezu unwiderstehlich gab es dann mit Mendelssohns (einsätziger) h-Moll-Streichersinfonie Nr. 10. Der „Mozart des 19. Jahrhunderts“ (Schumann), hier mit jugendlich unverfälschter, Spontanes schon handwerklich überaus gekonnt verarbeitender Meisterschaft. Ein Paradestück virtuosen Musizierens, das gelegentlich schon fast atemlos und auch ein bißchen fassungslos machte angesichts der Tatsache, dass der Komponist diese und viele andere Streichersinfonien im Alter zwischen 12 und 14 Jahren schrieb.
Das wäre schon ein geeigneter „Rausschmeißer“ der besonderen Art gewesen. Aber Hope hatte noch Einiges vor: nämlich die so ganz spezielle, reizvolle Klangfarbenpalette eines der Großen des Streicherklangs authentisch zu präsentieren: Edvard Griegs Suite im alten Stil op. 40 „Aus Holbergs Zeit“. Die „Entführung“ in historische nordische Gefilde gelang. Völlig schmerzfrei, geradezu therapeutisch befreiend, fast schon schwerelos. Aber dann doch die Erdung: Feierliches, Festliches, Religiöses – was für ein Satz, dieses Air! – und lebendig Tänzerisches, Energisches. Und letztlich ein Musizieren, von dem sich wohl der Saal wünschte, es möge nicht aufhören. Meister Hope hatte das wohl einkalkuliert. Ein bißchen zumindest. Und so war man nach einigen Zugaben dann auch zufrieden!
Titelfoto © Oliver Borchert