Einfach Klassik.

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57. Wittener Tage für neue Kammermusik

Zukunft war gestern – heute wird die Gegenwart neu gedacht. Die 57. Wittener Tage für neue Kammermusik verwandelten vom 2. bis 4. Mai unter dem Motto „Upcycling“ die Stadt in ein Labor musikalischer Transformation. Mit 16 Uraufführungen und drei Deutschen Erstaufführungen weitete das Festival den Blick auf die grenzenlose Vielfalt frei wuchernder künstlerischer Ansätze. Und ja: Auch ein gutes Händchen für Spektakel und Performance hoben die Musikereignisse über allzu selbstbezogene Klangforschung immer wieder hinaus.

Wittener Seufzer, © WDR/Claus Langer
Wittener Seufzer, © WDR/Claus Langer

Der Festivalauftakt ging direkt in die Vollen, mit bombastischer Bildregie und auch viel ästhetischer Provokation: Das Ensemble Musikfabrik und das Ensemble Scope lieferten mit Performerin Ria Rehfuß eine drastische, bildgewaltige Inszenierung, in der die aufgeführten Kompositionen die vielfältigen Musikströmungen, verbunden mit vielen kollektiven Erregungen betont „ungefiltert“ miteinander verband – von Elektronik über Noise bis zu orchestralen Klangflächen. Hier ging es auch um Gewaltdarstellung in Medien und andere gesellschaftliche Aspekte bei einer gleichzeitig konsequenten Weiterentwicklung multimedialer Konzertformen.

Wittener Tage: Eine Einladung, in die Tiefe vorzudringen

Zum programmatischen Anliegen gehört es, eine bestimmte Komponisten-Persönlichkeit mit gleich einer ganzen Reihe von Konzerten ins Zentrum zu rücken als bewusste Einladung, in die Tiefe vorzustoßen, was dem Publikum einen immensen Verständnis-Mehrwert liefert. Im Falle von Cassandra Miller revidierte dies ein Vorurteil mehr, welches der zeitgenössischen Musik anhaftet: Nämlich das Klischee, dass sich alles, was eben nicht tonal in Dur und Moll domestiziert ist, der natürlichen Empfindung entzieht. Die Klangsprache Cassandra Millers beweist, das das Gegenteil der Fall ist durch ihre konsequente Einbeziehung der gesamten Obertonreihe, was noch viel unmittelbarer an dieser „menschlichen Natur“ dran ist. Die aufgeführten, sehr diversen Stücke schöpften sensibel aus den unterschiedlichsten Facetten von sinnlichem Klangerleben -facettenreich interpretiert durch das Gesangsensemble Exaudi und einen Tag später beim Gesprächskonzert durch das Quatuor Bozzini.

Performance Wittener Seufzer © WDR/Claus Langer
Performance Wittener Seufzer © WDR/Claus Langer

Die diesjährigen Wittener Tage hatten einen klar definierten, mitreißenden Höhepunkt, der am Samstagabend das Gefühl hinterließ, dass man sich jetzt gerade auf dem coolsten Festival auf dem ganzen Planeten befinden musste: Die Rede ist vom Trickster-Orchestra, dessen Auftritt in Witten eine mächtige Lanze für engagiertes transkulturelles Musikschaffen brach. In der gebotenen Farbenpracht zeigte sich ein Wandel im intellektuell geprägten Avantgarde-Verständnis. Die Verleihung des WDR-Liminal-Musik-Preises an die von Cymin Samawatie geleitete Gruppe erschien als folgerichtige Würdigung.

Hier werden globale Klänge zum Sprechen gebracht, forschen Holzblasinstrumente aus Orient und Okzident Seite an Seite mit einem mächtigen Blech- und Schlagwerkset in den Urgründen musikalischen Ausdrucks, aber begeben sich auch forschend auf die Reise ins Labyrinth jazziger Linien – wie überhaupt das kollektive Improvisieren ein dynamisches Treibmittel ist. Plausibel genug, dass sich inmitten dieser Wittener Aufführung schließlich auch ein fettes Jazzarrangement von George Lewis bestens zuhause fühlte, der bei dieser Aufführung auch persönlich zugegen war. Vor allem das von Wu Wei spektakulär entfesselte Solo auf der Sheng, der asiatischen Mundorgel, entfesselte frenetischen Spontan-Applaus. Aber auch alle Instrumentalistinnen und Instrumentalisten wuchsen hier über sich hinaus, unter anderem auch Klarinettistin Annette Maye. In einer Art Ritus verteilte Cymin Samawatie während einer Passage Blüten – ein feiner Hinweis auf die geistige Dimension der Musik. Einige Besucher verließen vorzeitig den Saal, was nach Protestgeste aussah. Aber so etwas kann ruhig als Qualitätsmerkmal eines Festivals durchgehen, das dem überkommenen akademischen Gehabe der Avantgarde die Lebendigkeit des Unmittelbaren entgegensetzt.

Giordano Bruno Do Nascimento
© WDR/Claus Langer
Giordano Bruno Do Nascimento © WDR/Claus Langer

Man konnte sich nicht satthören an dem, was der konventionelle Konzertbetrieb vorenthält 

Johannes Kreidlers Performance „Wittener Seufzer“ präsentierte sich als kurzweiliges Happening, dessen künstlerische Einlösung aber teilweise im Klamauk stehen blieb. Ein illustrer Death-Metal-Sänger agierte als Stimmkünstler und gab gespenstische Urlaute von sich, während sein Kollege Namen von AfD-Politikern verlas. Das folgende Duell mit einem lärmenden Laubbläser hätte man vielleicht als Groteske auf geistiges Kleingärtnertum interpretieren können, aber das blieb der Fantasie des einzelnen Zuhörers überlassen. Genug Wind gemacht wurde allemal im Märkischen Museum.

Das Finale mit dem WDR Sinfonieorchester unter Elena Schwarz gestaltete sich nochmal als Showdown für den Cellisten Nicolas Altstaedt. Mit ausdrucksmächtigen Gesten brillierte er in Malika Kishinos Cellokonzert. Sein geerdeter, satter Ton – sein Alleinstellungsmerkmal – riss das gesamte Orchester mit. Das letzte Wort hatte dann noch einmal Cassandra Miller mit „BISMILLAH MEETS THE CREATOR IN SPRINGTIME“, was sie mit Silvia Tarozzi selbst auf der Bühne performte. Aus dekonstruierten Klängen entstanden noch einmal frei wuchernde klangliche Biotope, die einer tief lyrischen Textur folgten, damit jedem einzelnen verblüffend nahe zu kommen, ja, zu überwältigen.

Quattro Bozzini, Foto 
© WDR/Claus Langer
Quatuor Bozzini, Foto © WDR/Claus Langer

Man konnte sich an den drei Festivaltagen, die noch viele Konzerte mehr umfassten, nicht satthören an all dem, für das es im regulären Kulturgeschäft sonst kaum Entfaltungsraum gibt, wo leider viel zu sehr auf ästhetische Risikovermeidung gesetzt wird. Patrick Hahns weltoffener kuratorischer Weitblick hat die Relevanz der Wittener Tage im Heute hier noch weiter gefestigt. Erfreulich war auch die Präsenz von Künstlerinnen und Künstlern aus NRW – allen voran in der spektakulären Musikfabrik-Performance zu Beginn – um das kreative Potenzial der Heimatregion dieses Festivals würdig mit einzubeziehen. Viele junge Menschen wollten in diesem Jahr erfahren, wie zeitgenössische Musik heute daherkommt und bekamen es geliefert: pluralistisch, lebendig, emotional und intellektuell herausfordernd, aber auch zugänglicher als je zuvor!

Titelfoto © WDR/Claus Langer

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Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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