Der entspannt fliessende Kompositionsstil Páll Ragnar Pálssons bestimmt fast sein gesamtes Werk. In seinem bemerkenswerten Werdegang hat er sich dieser Herangehensweise verschrieben, nachdem er eine frühe Karriere in einer bekannten isländischen Alternative Rock Band beendete, und sich dem Erlernen klassischer Komposition zuwandte. Irgendwann verließ er dafür Island und ging nach Talinn in Estland, um dort eine völlig neue Kulturwelt kennenzulernen. Hier entwickelte sich sein Stil maßgeblich, und auch heute, nach der Rückkehr in seine Heimat gibt es noch starke Verbindungen dorthin.
Intensive Kooperation
Doch nicht nur sein eigener Werdegang machen ihn als Künstler aus, es ist auch die Beziehung zu seiner Frau, der Sopranistin Tui Hirv, mit der er schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft eine enge Kompositions-Gesangs-Kooperation begann. Sie singt auch bei fast allen Titeln des Albums “Atonement”, das nun mit fünf Ersteinspielungen von Pálssons Werken veröffentlicht wird.
Die weitere Musik spielt das ebenfalls aus Island stammende Caput Ensemble. Die 1987 gegründete Gruppe war schnell von einer kleinen Kammerbesetzung zu einem 20 Personen starken Ensemble herangewachsen, und hat seither einen festen Status in der internationalen Szene der Neuen Musik.
Die spezielle Erfahrung der Musiker wird auf dem gesamten Album so vordergründig hörbar, dass ich richtig erstaunt war, von so viel Interpretationssicherheit. Gleich im Titelstück “Atonement” wird klar, dass alle Mitglieder des Caput Ensemble sehr viel Wert auf die Dynamikarbeit legen. Dass feinste Details in Lautstärkeverläufen und die genaue Gestaltung von Impulsen wichtigen Stellenwert haben, gibt der hier vorliegenden Ausführung von Pálssons Werken diese Räumlichkeit, die wohl ursprünglich auch so angelegt ist. Mit besonders viel Spaß scheinen die Musiker*innen die häufig von Pálsson verwendete Verschränkung von Wechseln in der Lautstärke und in den Spieltechniken umzusetzen, in “Atonement” tauchen die Streicher oft im Übergang in tonlosere Striche in leisere Gefilde ab, während die Flöte einige Töne bewusst gläsern, halblaut in den Raum stellt. Insgesamt fällt auf, dass in Pálssons Werken die Auswahl der Spieltechniken immer der Komposition dient, und nicht um ihrer selbst Willen geschieht. So wird Neue Musik erfreulicherweise ihrer Sonderstellung beraubt, und für jeden organisch hörbar und nahbar.
Die Stimme
Aus der tiefen Klangwelt des Ensembles taucht dann Tui Hirvs Gesang auf. Mit für eine Sopranistin erstaunlich dunklem Timbre hat sie viele Möglichkeiten sich in der Gruppe der Musiker*innen zu positionieren. Auch in “Stalker’s Monologe” ist Hirv grundsicher im Wechsel zwischen Führung und Einordnung, und arbeitet dabei immer wieder mit einzelnen Instrumenten zusammen, zum Beispiel wenn sie ihre Klangfarbe minimal zu den Streichern hin verschiebt. Die Tatsache, dass sie so viel mit dieser Musik umgeht, und Diese mit gestaltet nutzt sie deutlich zu ihrem Vorteil, und kann klar und künstlerisch unabhängig darstellen, was dieser Musik wichtig ist.
In “Midsummer’s Night” spricht Tui Hirv die Rezitation mit erstaunlich alltagsgebräuchlicher Sprechstimme, die erfrischend wenig Schauspielaspekte nutzt. Und das vor diesem fantastischen Hintergrund, den das Caput Ensemble in diesem Stück malt, wenn sie Pálssons mäandernden, immer verästelnden Kompositionsstil durch kleine und große Klangereignisketten umsetzen. Manchmal scheint es, als werde die Musik als Nachricht unter den Musiker*innen immer weitergegeben, wenn die Klarinette den Klang der Chimes übernimmt und fortführt, oder wenn die Klarinette einen fledermausartig flatternden Ton an die wirbelnde Violine abtritt.

Begegnungen
Diese sequenziellen Momente sind oft aber vermischt mit Begegnungen, die bewusst zur gleichen Zeit stattfinden. In “Wheel Crosses under Moss” treffen sich immer wieder Klavier und Sopranistin und verharren detailverliebt in der Sekunddissonanz. Diese Dissonanzen werden auch zwischen Flöte und Streichern oder Streichern und Klarinette gern gelebt, so daß sich aus diesen beiden Methoden über die gesamte Länge des Albums hinweg ein langsam kreisendes Klang- und Melodiekontinuum ergibt, das den Hörer umfängt und sachte mitnimmt. Das ist ein starker Grund, das Album in Gänze zu hören, und seine verschiedenen Aspekte mit Bedacht entfalten zu lassen.
Diese Kombination aus tiefer Erfahrung und Einbindung der Interpreten, aus den kompositorischen Kniffen Pálssons, und schlichtweg der träumerischen Schönheit seiner Musik, macht “Atonement” zu einer dringenden Empfehlung für alle Liebhaber der Neuen Musik, und zu idealem, Spaß bringendem Anschauungsmaterial für alle, die das noch werden können.
Ab dem 19. Juni wird das Album in Deutschland erhältlich sein.