Würde man den Titel dieses Albums ins Deutsche übersetzen, dann lautete er wohl „Die Scherzinger Etüden“. Klingt ja wie ein etabliertes Standardwerk, dachte ich beim wöchentlichen Durchhören von Ankündigungen und Neuerscheinungen. Martin Scherzinger ist ein südafrikanischer Komponist und Musikwissenschaftler, der diese Sammlung an Klavieretüden im Lauf der letzten Jahre komponiert hat. Zusammen mit dem Pianisten Bobby Mitchell hat er jetzt die Ersteinspielung für New Focus Recordings umgesetzt.Ja, gut, also kein Standardwerk. Oder vielleicht doch?
Das große Thema von Martin Scherzingers Forschungen ist die traditionelle, afrikanische Musik. Sein Hauptanliegen ist es, dem eher oberflächlichen, westlichen Endruck, es ginge vor allem um Rhythmus und Wiederholungen, weitaus tiefere Betrachtungen entgegenzustellen. In seiner ersten Veröffentlichung „African Math“ hat er eindrucksvoll illustriert, dass es komplexere, mathematische Muster sind, die vielfältige und zahlreiche Teile und Abschnitte in afrikanischer Musik bestimmen und gestalten.
Scherzinger bringt zusammen
Bei seinen Klavieretüden hat er nun diese Eigenschaften als Grundlage genommen, um sie westlicher, klassischer Klaviermusik zu nähern, und zu versuchen, beide miteinander in Verbindung treten zu lassen. Dazu verwendete er kompositorische Grundlagen von Chopin, Liszt, Schumann und Paganini und infiltrierte sie damit, was er in langen Studien als tatsächliche, unter der für westliches Empfinden sichtbaren Oberfläche herrschenden Charaktereigenschaften von afrikanischer Musik zu Tage gebracht hat. Und so subtil diese Beschreibung wirkt, so klingt es auch in der Musik. Hier findet kein Kampf der Kulturen statt, keine “Afrikanisierung” bekannter Motive. Bei meinem ersten Hören spielte Bobby Mitchell da einfach nur klassische Klavierstücke. Aber dann passiert immer etwas sonderbares. Nach einigen Takten gerät die Klassik etwas außer Kontrolle, da verselbständigt sich ein Thema, ist ein rhythmisches Motiv ein bisschen zu rollend, oder Arpeggios und Melodiekaskaden brechen gleich begeistert purzelnd aus jeglichen Mustern aus. Das führt jedoch nie zu unkontrollierten Noten-Festen, die klassische Basis hält die Musik viel mehr bei sich und zügelt sie zu gedrosseltem, aber dennoch beschwingtem, gemeinsamem Tanz. Mitchell setzt das ganz hervorragend um mit seinem gleichzeitig kontrollierten und sehr begeisterungsfähigen Spiel.
Das erlebt man gleich im auf Robert Schumanns “Ritter vom Steckenpferd” (Kinderszenen) basierten „The Horse Is Not Mine, a Hobby Horse“ wenn der Pianist die fröhlichen Arpeggios regelrecht über die Klaviatur treibt, und damit auch Fokus auf die positiv einladende Harmonik legt. Den leise abfallenden Schluss löst er dann versonnen im zugrunde liegenden Rhythmusmuster auf, um gleich im Anschluss in „Verso il capo“ träumerisch und nachdenklich zu erzählen.
Ruhig und beruhigt
Um ehrlich zu sein, hat mich „Kinderreim“ sehr angesprochen, weil es zunächst so ein wunderschön gelungenes, kleines Klassikstück ist. Hier hält Scherzingers zweite Einflusssphäre nur sehr spärlich Einzug, und Bobby Mitchells betont leichter Vortrag lässt mich Hobby-Pianisten hier erst recht das Notenmaterial verlangen. Im folgenden „Chopi Chopin“ ändert sich das nicht grundlegend, nur dass ich hier natürlich meine eigenen, technischen Grenzen finden würde. Der Pianist hat diese Beschränkung natürlich nicht, und führt die in klare Chopin-Atomsphäre eingewobenen weiterführenden Elemente trotz gewisser, spieltechnischer Anforderungen mit ruhigem und beruhigendem Legatospiel um.
„Occidentalism“ stützt sich auf spätromantische Referenzen, und auch hier setzt Mitchell die afrikanischen Einflüsse in deutlichem, aber nicht zu prominentem Maß um, indem er aufgebrochene Akkorde pointiert ausbreitet, und volle Akkordkaskaden manchmal im klassischen Sinn etwas zu forsch ansetzt.
Es sind noch so viele Stücke auf diesem Album, die ich beschreiben könnte, aber ein eigener Eindruck ist hier sehr anzuraten. „Scherzinger Etudes“ ist ein heißer Tip für alle, die Klaviermusik mögen, die aber beides wollen, sowohl bei Gewohntem bleiben, als auch Neues erleben.