Hört man den Namen Sibelius, fällt dem Klassik-Enthusiasten in der Regel zuerst seine bekannteste Komposition „Finlandia“ ein, in der die malerische Schönheit der finnischen Landschaften musikalisch umgesetzt wurde.
Das wahre Meisterwerk ist meines Erachtens jedoch die 1899 entstandene 1. Sinfonie e-moll op.39. Wer genau hinhört, wird vielfach Elemente von Tschaikowsky erkennen, dessen 6. Sinfonie übrigens 1897 in Helsinki erstmalig aufgeführt wurde und die Sibelius natürlich bekannt war. Mit diesem Werk setzte er maßgebliche Akzente für seine weiteren Kompositionen. Eine breite Anerkennung des Publikums war zudem die Folge.
Kontrastreich
Ich persönlich kenne relativ wenig andere Musikdichtungen, die dermaßen viele Kontraste und gleichzeitig nur scheinbar fragmentarisch auskomponierte Melodiestränge enthalten, wie die 1. Sinfonie von Jean Sibelius (1865 – 1957). Besonders angetan hat es mir das andante molto tranquillo, eigentlich alles andere als ruhig, denn die schroffen Pauken beenden relativ harsch den rhapsodischen Charakter, bauen diesen aber zum Ende des Satzes in ergreifender Form wieder auf.
Die meiner Meinung nach beste Aufnahme dieser epischen Sinfonie entstand im Februar 1990 im grossen Saal des Musikvereins, mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein am Dirigentenpult. Die Einspielung wurde live mitgeschnitten und bietet auch unter diesem Aspekt eine absolut tadellose Tonqualität. Der Exzentriker Bernstein drückt dem Werk zwar einen recht subjektiven, fast schon extremen Stempel auf, von einem „Alterswerk“ im üblichen Sinne kann aber nicht die Rede sein. Wenn auch heutige Dirigenten die Angewohnheit haben, die Tempi eher zu straffen, so dirigiert Bernstein in konventionellem Stil. Es gelingt ihm jedoch, eine fast schon abenteuerliche Spannung aufzubauen und die Wiener spielen sich regelrecht die Seele aus dem Leib. Bernsteins Sibelius hypnotisiert und fasziniert in jeder Minute. Er überlässt nichts dem Zufall, jede Note sitzt punktuell. Das Orchester klingt massiv in den tutti und überzeugt auf ganzer Linie mit einer spürbar durch den Körper gehenden Intensität.
Leonard Bernstein und sein Sibelius
Zugegeben, ich habe Bernstein nie besonders geschätzt. Seinen Beethoven fand ich sogar anmaßend und ziemlich frevelhaft. Doch sein Sibelius-Zyklus ist absolut magnetisch, beginnend mit dieser Einspielung der 1. Sinfonie, entstanden knapp 8 Monate vor seinem Tod.
Es wird immer wieder behauptet, dass die 5. Sinfonie von Sibelius angeblich die zugänglichste sei. Dieser Meinung kann ich mich definitiv nicht anschließen. Zudem führen solche Aussagen häufig dazu, nur die scheinbar „zugänglichen“ Werke zu konsumieren und andere dadurch mit weniger Aufmerksamkeit abzustrafen. Die Schönheit der Musik entspringt immer aus ihr selbst. Wer die 1. Sinfonie noch nicht kennt, sollte ihr eine Chance geben. Sie ist definitiv eine Entdeckung wert.