Berlin gab sich spätsommerlich in diesen Septembertagen. Hatten diese sympathischen jungen Menschen die Wärme aus Portugal gleich mitgebracht? Vier Tage lang ging das Ensemble Darcos, jene Spezialformation des Lissabonner Komponisten und Dirigenten Nuno Corte-Real im Berliner Teldex-Studio in Klausur. Auf der Agenda stand nichts geringeres als die musikalische Aufarbeitung des wohl umwälzendsten Ereignisses in der portugiesischen Geschichte: Im Jahr 1755 legte ein gewaltiges Erdbeben die Hauptstadt Lissabon, aber auch zahllose Landstriche drumherum in Schutt und Asche. In ganz Europa gibt es seitdem eine Geschichtsschreibung vor und nach dem Beben. Das Vertrauen der Menschheit in den eigenen Fortschritt war nachhaltig erschüttert.
Tremor heißt Nuno Corte-Reals musikalische Antwort darauf, welche im November offiziell erscheint. In seiner Struktur bildet es eine Mischung zwischen Kammeroper und Liederzyklus, welcher die nachdenklichen Texte des Lissabonner Schriftstellers Paulo Mexia in schillernde, machmal rauschhafte Klangfarben taucht.
Ein alter Ballsaal, vermutlich irgendwann kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende errichtet, wurde zu einem der größten Aufnahmestudios in Berlin umfunktioniert. Früher hat hier die Telefunken-Tochter Teldec viele legendäre Schallplatten aufgenommen. Heute heißt der Träger Teldex, operiert mit neuester Technik und in funktionalen, hellen Räumen als privatwirtschaftliche Gmbh. Die Atmosphäre ist von großzügiger Gelassenheit gezeichnet – und das zeichnet auch den Arbeitsstil von Tonmeister Tobias Lehmann aus. Was Corte-Real und dem Ensemble Darcos, in der knapp bemessenen da kostspieligen Studiozeit half, sofort ans Eingemachte zu gehen…
Tag für Tag fügte sich die neue Musik Baustein für Baustein zusammen. Für außenstehende Beobachter wirkt die systematische Detailversessenheit nicht selten irritierend. Und auch Corte-Real hatte die übliche Reihenfolge der produktiven Arbeitsschritte für dem Liederzyklus „Tremor“ umgestellt: Zunächst wird das frisch komponierte Werk aufgenommen – erst danach wird es im November auf den Livebühnen in Lissabon Konzertpremiere haben. So geht es üblicherweise in der Popmusik-Produktion zu. Klassiker und Jazzer gehen normaler andersherum vor…
Im Ensemble Darcos lebt ein tiefes Gespür füreinander
Tremor besticht durch seine ausgiebigen, exponiertenVokalparts – mit der bestechend energetischen Sopranstimme von Barbara Barrados als tragendem Element. Ihre Versiertheit im Koloratursopran kann die international gefeierte Opernsängerin in Corte-Reals Partitur mit ganzer Abenteuerlust entfalten, wo Anspielungen auf barocke Formensprache, spätromantisches Kolorit, aber auch viele zeitgenössische Klangabenteuer ihren Platz haben.
Klar ist: Barbara Barrados weiß bei den Aufnahmesessions, was sie will und äußert daher auch noch mehr Korrekturwünsche als Tobias Lehmann selbst aus seinem, wie ein großes Flugzeugcockpit anmutenden Kontrollraum heraus. Lehmanns klares, kritisches Urteil wird von Nuno Corte-Real ganz besonders geschätzt. Viele Worte braucht die Übereinkunft zwischen Corte-Real und seinen Musikern kaum, denn spürbar ist ein phänomenales Gespür füreinander im Ensemble Darcos, welches Corte-Real im Jahr 2002 gründete, sozusagen als ein kreatives Vehikel für die eigene Projekte und Ideen.
Die Arbeit an dieser neuen Musik zieht trotz der augenscheinlichen Entspanntheit ein Maximum an Energie. Das zeigt sich in den regelmäßigen Probenpausen, wo fast alle in der warmen Septembersonne kurze Erholung suchen. Keines der Projekt dieses Ensembles ist wie das andere – man könnte den Personalstil des 1971 in Lissabon geborenen Komponisten als eklektizistische Offenheit bezeichnen. Sein Anspruch liegt darin, die musikalische Gegenwart aus den Schubladen heraus zu lösen und dabei immer wieder Elemente aus Alter mit Neuer Musik zu vereinen – denn so ist doch die heutige Wirklichkeit, in der alles verfügbar, entdeckbar und auch kombinierbar ist.
Synthesizer und viele Perkussionsinstrumente verweisenin „Tremor“ auf die Offenheit der Musik für alle zeitgenössischen Genres. Eine opernhafte Arie kann durchaus Affinität zu einem Popsong haben und eine Klangsprache aus der neuen Musik durchaus in traditionellen Stilelementen wie einer portugiesischen Fado-Gitarre geerdet sein.
Die menschliche Existenz im Spiegel ihrer Verwundbarkeit
Die Liedtexte von Paulo Mexia refektieren das Jahrhundert-Erdbeben und ihre Auswirkungen auf die Menschheit collagenhaft, entziehen sich also weitgehend einer „Nacherzählung“ dieses Vorgangs. Im Stück „Furor“ hat Barbara Barrados einen aufbrausenden, sich in schneidende Höhenlagen hochschraubenden Part zu bewältigen. Es geht um „Zorn“ – als elementare Kraft, die den Sinn der menschlichen Existenz hinterfragt. Die expressiven Vokalisen von Barbara Barrados, aber auch viele melancholische, nachdenkliche, ausmalende Arien bilden einen lyrisch intensiven Spannungsbogen, der eine ganze Empfindungsskala im Angesicht einer existenziellen Bedrohung abbildet.
Drei weitere Gesangsstimmen machen den kommentierenden Chor perfekt, sorgen für noch mehr Emotion. Synthesizer, aber auch eine portugiesische Fado-Gitarre kommen wie theatralische Anspielungen zum Einsatz. Auf jeden Fall präsentiert „Tremor“ ein Spektrum der menschlichen Existenz im Spiegel ihrer eigenen Verwundbarkeit – was sich in unserer heutigen Zeit auch wieder beklemmend aktuell fühlt. „Wenn wir unser neues, ambitioniertes CD-Projekt in Berlin an diesem renommierten Ort aufnehmen, wünschen wir uns natürlich auch Synergieeffekte, dass unsere Musikkultur in der Mitte Europas bekannter wird“ räumte Vanessa Pires, Managerin des Ensemble Darcos im Gespräch ein.
Nuno Corte-Real sieht Möglichkeiten
Nuno Corte-Real geht es bei der Wahl dieses Studios aber in erster Linie um die künstlerischen Möglichkeiten unter diesen Bedingungen. Auch Tobias Lehmann war am Ende dieser sonnig motivierten Aufnahmetage voller Freude: Mal an einem solchen, nicht alltäglichen Projekt akttiv beteiligt zu sein markiert doch eine Abwechslung zur sonstigen, gut geölten aber auch druckvollen Produktionsroutine – bevorzugt im Auftrag von Sinfonieorchestern und auch Hollywood-Filmmusikproduktionen für die das Teldex-Studio die erste Adresse in Berlin ist, wenn es um das Aufnahen der Orchesterparts geht. Darüber hinaus sind die Produktionsprozesse längst global vernetzt.