Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Seit dem 9. Juni ist Greifswalds nunmehr 78. Bachwoche Geschichte. Mit 36 Veranstaltungen an nur sieben Tagen und an unterschiedlichsten Orten – Thema „Bach romantisch“ – , einer wieder beeindruckend großen Anzahl von Interpreten und rund 10 000 Besuchern kann der Veranstalter, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland samt Kooperationspartnern, wieder auf eine sehr erfolgreiche Musikwoche zurückblicken. LKMD Frank Dittmer, Professor für Kirchenmusik am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald und Künstlerischer Leiter der Greifswalder Bachwoche, zeigte sich ebenfalls „hoch zufrieden“. Als selbst vielfach Beschäftigter hatte er zudem für ein Finale gesorgt, dass das hier eigentlich Gängige, nämlich ein Bachsches Oratorium, zum Besonderen machte. Gemeint ist eine Aufführung der Matthäuspassion in jener Fassung, die Felix Mendelssohn Bartholdy, dabei viele Anregungen seines Lehrers und Förderers Carl Friedrich Zelter nutzend, selbst erarbeitet und mit sensationellem Erfolg am 11. März 1829 in Berlin aufgeführt hatte. Dies nach hundertjährigem Tiefschlaf des Werkes und mit gravierenden Folgen für die sich danach lawinenartig entwickelnde Bachpflege und -forschung; ebenfalls vorhandene kritische Einschätzungen auch prominenter Zeitgenossen inbegriffen. Es sei hier der Versuchung widerstanden, Details der spannenden, sehr aufschlussreichen und nicht nur musikhistorisch hochinteressanten Geschichte jener historischen „Wiederaufführung“ und etwa ihrer massenhaften musikpublizistischen Folgen zu bieten. Man lese selbst; Material ist reichlich vorhanden! Genuss und Staunen, aber vor allem Kenntnisgewinn sind garantiert!
Nun also diese schon 1994 unter Jochen A. Modeß in Greifswald gebotene Mendelssohn-Fassung erneut in Greifswald! Wobei das die Romantik einbeziehende Bachwochen-Thema nicht wörtlich übertragbar scheint. So spricht die Fachwelt kaum noch von einer „romantischen“ Fassung, für die nämlich kaum Belege zu finden seien; eher von einer „Einrichtung“. Ein Bild, das den jungen, begeisterten Mendelssohn als „Bearbeiter“ Bachs zeichnet, entspräche kaum der Wahrheit. Zu lesen ist sogar, das sich Mendelssohn hinsichtlich seiner (in der Aufführungspartitur verzeichneten) interpretatorischen Ambitionen näher bei Bach befunden habe als manche heutige Aufführung! Details der Fassung von 1829 dürften allerdings lediglich den Musikhistoriker oder Bachspezialisten interessieren und bleiben hier unberücksichtigt. Gut zu wissen aber wäre: Mendelssohn hat, in Kenntnis aller Umstände und als genauer Kenner damaliger Musikpraxis, vor allem konzentrieren wollen und deshalb die Werkdauer auf etwa zwei Drittel gekürzt. Will heißen: er strich 20 Nummern, darunter vor allem Arien, komplett, einige andere nur partiell. Hier und da entfielen auch Wiederholungen. In der Partie des Evangelisten „entschärfte“ er diverse (zu) hohe Töne. Er hat zudem mit dem Ersatz von Oboe da caccia und Oboe d´amore durch Klarinetten klanglich durchaus ins Gewicht fallende Besetzungen geändert, Stimmfächer ausgetauscht, im Eingangschor zahlreiche dynamische Einzeichnungen vorgenommen und relativ häufig Tempo- und Vortragsangaben in die Partitur geschrieben. Ziel aller dieser ud anderer Maßnahmen – und wir zitieren einen Fachmann – war, „die Matthäus-Passion nicht als alte beziehungsweise veraltete, rückschauende Musik, sondern als lebendige „zeitgenössische“ Musik darzubieten…“ (Sachiko Kimura, 1998). Was wie die Dokumente zeigen, vollauf gelungen war!
Was 1829 noch als Sensation galt – wohlgemerkt, das Publikum kannte nur die Mendelssohnsche Fassung – wird heute weitaus nüchterner gesehen. Kein Mythos mehr, wohl aber Respekt und Interesse für ein Unternehmen mit Folgen. Dem Hörer sind im Normalfall die angeführten Details zwar unbekannt, er wird aber – und damit gehen wir nach Greifswald – hier und da die Ohren gespitzt haben. Dunkle, warme Klarinettenklänge waren ihm in diesem Werk bislang nicht begegnet. Auch eine Continuo-Behandlung mit zwei jeweils doppelgriffig spielenden Celli – so in Greifswald als Entlehnung aus Mendelssohns . Fassung von 1841 zu erleben – dürfte als neuartig aufgefallen sein. Die Nutzung eines Hammerflügels zählte ebenso zu den Andersartigkeiten, wobei die Bachforschung an repräsentativer Stelle verlauten lässt, dass es 1829 um ein Cembalo gegangen sein müsste. (Das Instrument, von dem aus Mendelssohn die Aufführung leitete, wurde seinerzeit als „Flügel“ bezeichnet. Das sei missverständlich als „Hammerflügel“ gedeutet worden). Was die Dynamisierung des Musikalischen betrifft, so sind heutige Interpretationsvorstellungen – also auch die Frank Dittmers am Pult – ohnehin den Mendelssohnschen Intentionen einer emphatisch geprägten Aufführungspraxis sehr nahe. Dafür sprach zusätzlich auch der Einsatz eines historisch informiert musizierenden Instrumentalensembles (Orchester für Alte Musik Vorpommern).
Mit Greifswalds Domchor, dem Jugendchor des Goethe-Gymnasiums Demmin, besagtem Orchester und einem mit Johanna Ihrig (Sopran), Britta Schwarz (Alt), Christian Rathgeber (Tenor), Julian Redlin (Bass) und Anton Haupt (Bass, Jesus) hervorragend besetzten Solistenensemble waren damit beste Voraussetzungen für eine gelungene Aufführung gegeben. Dittmer sorgte 120 Minuten lang für hohe Konzentration, einen sehr lebendigen Wechsel unterschiedlicher, oft dramatischer Episoden – wenig Arien, viele aktionsreiche Rezitative – sowie für transparente Plastizität der musikalischen Abläufe. Hinzu kamen Beweglichkeit, Lockerheit, Energie, Kraft und schönster beruhigender Choralklang in den mit viel Präzision, aber stets ohne akademische Steifheit agierenden Chören sowie ein Orchester mit den meist gleichen Attributen, vor allem aber klangintensiver, prägnanter, gleichsam „redender“ Gestik, erzählender Artikulation und musikantischer Stringenz. Da fehlte dann nur noch ein Solistenensemble, das nicht nur stimmlich den Riesenraum des Doms füllte, sondern mit ausgesprochen fesselnder, glasklarer Stimmgebung auch noch die dramatische Geschichte vom Leiden des Jesus von Nazareth faszinierend zu erzählen verstand. Dies mit bewegter, auch bewegender Lebendigkeit und Kontrastschärfe, sowie ambitioniert in der Verlebendigung einer zwischen tiester Trauer, dramatischer Erregtheit und tröstlicher Hoffnung schwankenden Geschichte. Große, überzeugend gelöste Aufgaben nicht nur für den hier besonders vielbeschäftigten Evangelisten, dessen sprachlich-rhetorische Rasanz dann besonders wirkungsvoll von den (verbliebenen) Arien und Duetten – darunter Kleinode, die wohl nur einem Bach einfallen konnten – ergänzt wurde. Da stand dann kaum noch die Frage im Vordergrund, ob man das Original oder eine Einrichtung vernahm! Es ging vor allem um Bach. Und der konnte sich wahrlich hören lassen!