Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Wo, wenn nicht hier, wann, wenn nicht im Rahmen der Bachwoche Greifswald wäre der Ort, um nicht nur dem allseits berühmten und omnipräsenten Thomaskantor die Ehre zu geben, sondern auch den Werken vieler weiterer „Bäche“ aus dem engeren und weiteren Familienkreis gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. In Greifswald hat man sich mit dem diesjährigen Bachwochenthema „Bach familiär“ dazu verpflichtet und auf Tasten, Saiten und mit der Stimme auf vielfältige Weise Programmangebote gemacht. Auf zwei Konzerte sei nachfolgend verwiesen.
„Das ist meine Freude“ – so das Motto eines Kammerchorkonzertes, zu dem am vergangenen Mittwoch in der Kirche zu Wieck/Greifswald eingeladen wurde. Es gab Raritäten! Nämlich vorwiegend Motetten aus dem sogenannten „Altbachischen Archiv“, bis 1943 im Besitz der Berliner Sing-Akademie, dann verschollen und erst 1999 vom Bachforscher Christoph Wolff in Kiew wiederentdeckt. Eine knappe Stunde lang gab es Gelegenheit, einer geistlichen Chormusik zu lauschen, der man weitere Verbreitung sehr wünschte. Natürlich liegen Vergleiche mit Johann Sebastian immer in der Luft. Aber bei sachlicher historischer, biographischer und stilistisch-kompositorischer Einordnung, nicht zuletzt hinsichtlich der Tatsache, dass es dabei auch um neuere Entwicklungen geht – dürfte ein lohnender, weil teils beachtlicher Eigenwert nicht weniger dieser Kompositionen als unstrittig anerkannt sein. Für das Programm dieses Nachmittags, für das sich der Kammerchor des Instituts für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität, einige Instrumentalisten und ein Vokalquartett unter der Leitung Frank Dittmers einsetzten, galt das allemal.
Lebendige Ausdrucksebenen
Zunächst für Johann Ludwig Bach (1677-1731), dessen Motetten von der Musikwissenschaft als „Werke würdigen, ernsten und feierlichen Charakters“, als Werke „epischen Charakters“ – gern doppelchörig – gewürdigt werden (Karl Geiringer). Was mit der energisch-fröhlichen, koloraturfreudigen Motette „Das ist meine Freude“ unschwer zu beweisen war.
Zu Johann Christoph Bachs (1642-1703) stärksten Motetten zählen die jeweils fünfstimmigen Werke „Der Gerechte“ – das Lieblingswerk Carl Philipp Emanuel Bachs! – und „Fürche dich nicht“, zwei Kompositionen, die im lebendigen Wechsel der Ausdrucksebenen, dichter Satzstruktur, polyphoner Kunstfertigkeit, Kontrastreichtum und ausdrucksstarker Wort-Ton-Beziehung sehr für sich einnehmen.

Eine zwischenzeitlich andere „Farbe“ (Solotenor, 2 Violinen, B. c.) brachte die Kantate „Ich bin vergnügt mit meinem Stande“ von Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788). Ein dreisätziges Werk in der Folge Aria – Rezitativ – Aria, stark in expressivem Ausdruck, konzertant angelegt (Tenor) und von recht direkter Wirkung.
Johann Michael Bachs (1648-1694) fünfstimmige Motette „Herr, wenn ich dich nur habe“, Johann Christoph Bachs „Lieber Herr Gott, wecke uns auf“ und Johann Sebastian Bachs/G. Ph. Telemanns „Jauchzet dem Herrn (BWV 160, Anh.), ohne Pause musiziert, fassten dann noch einmal zusammen, was an kompositorisch sehr gekonnter, mit Herzblut geschriebener und ungemein lebendiger Vokalkunst auf Entdeckung wartet.
Entdeckung sicher auch für die Ausführenden, wenngleich wohl mehr „Arbeit“, diese zu vermitteln. Das galt ganz besonders für den Kammerchor, der sich in verschiedenen musikalischen „Sprachen“ zu artikulieren und gestalterische Mittel sicher auch auf etwas ungewohntere Art einzusetzen hatte. Fazit in summa: eine knappe Stunde Hörvergnügen mit Einsichten! Und jede Meng akustisch gut vernehmbare Anregungen zur auch mentalen Rezeption eines geistlichen Repertoires, das mehr Aufmerksamkeit verdient. Höhepunkt der Aufführung war die Kantate BWV 160. Der 1. Satz stammt von Telemann (!), der 2 ist von Bach, der 3. möglicherweise vom Bach-Nachfolger Harrer. Wie dem auch sei: ein in vielerlei Hinsicht mitreißendes Stück, geradezu ein Qualitätsnachweis für jeden Chor, der etwas auf sich hält.
Bachwoche Greifswald mit überraschenden Kontrasten
Für neugierige Ohren gab es dann nur Stunden später reichlich „Arbeit“. In Greifswalds Kirche St. Jacobi gastierte das Kammerorchester der Komischen Oper Berlin – seit Jahrzehnten treuer Begleiter der Bachwoche Greifswald. Auf dem Programm wieder nur „Bäche“: Carl Philipp Emanuel Bachs (Berliner) Sinfonie C-Dur (Wq 174, H 649) und (Hamburger) Sinfonie D-Dur (Wq 183/1, H 663) sowie das Flötenkonzert d-Moll (Wq 22, H 425), die F-Dur-Sinfonie (Fk 67) von Wilhelm Friedemann Bach (1710-1784) und Johann Sebastian Bachs Konzert für 3 Violinen D-Dur BWV 1064 (R). Letzteres als Rückübertragung des Konzertes für drei Cembali auf eine – vielleicht – früher einmal vorhandene (und nicht überlieferte) Fassung für 3 Violinen.

Als jährlich besonders gefragte „Große Kammermusik“ war dies wieder ein Abend rasanten Musizierens, fast schon das Markenzeichen des Orchesters und seines Leiters, Konzertmeister Gabriel Adorján. Dafür gab es allerdings auch genügend Anlass. Vor allem die Sinfonien – wir sagen es hier mal pauschal – leben vom Geist kompositorischen Aufbruchs, von feurigem Gestus, dramatischen Zuspitzungen, überraschenden Kontrasten und einer hinreißenden Lebendigkeit. So, wie es der Zeitgeist forderte, dass alle „geschwinden Sätze munter, neu und fließend“ sein müssten. Das Lyrische, auch Galante, das schmelzend Melodische gab es dann in den Mittelsätzen der generell dreisätzigen Sinfonien. Sie alle machten seinerzeit Furore. Die Zeitgenossen waren vor allem vom „Originalkomponisten“ Carl Philipp Emanuel Bach begeistert. Er selbst hielt die vier (Hamburger) Sinfonien (1775/76) für „das größte in der Art, was ich gemacht habe.“ Wer in der rappelvollen Jacobi-Kirche sein „historisches“ (einordnendes) Ohr mitgebracht hatte, konnte dem nur zustimmen! Betritt man bei Philipp Emanuel relativ bekanntes Territorium, sieht das bei Wilhelm Friedemann Bach ganz anders aus. Der als schwierig wahrgenommene, aber gar als begabtester (ältester) Bach-Sohn hat viel komponiert, darunter 9 Sinfonien. Die in Greifwald musizierte F-Dur-Sinfonie (um 1735/40, Fk67) bestätigt das Wenige, das man als Urteil der Fachwelt kennt: ein Mann voller kreativer Energien mit höchst individueller, in mancher Hinsicht unangepasst, ungebärdig scheinender musikalischer Sprache. Eine Entdeckung allemal! So, wie Philipp Emanuels wunderschönes Flötenkonzert – technisch perfekt und tonlich traumhaft schön geblasen von Magdalena Bogner – oder die musikantisch dann wieder mitreißende, ziemlich unbekannte Fassung des D-Dur-Konzertes für drei Violinen. Ein Bach, wie er im Buche steht, als Streicherfassung höcht attraktiv und natürlich professionell musiziert: mit den Solist*innen Emily Mücke, Claudia Other und Gabriel Adorján.
Der Gewinn des Abends: eindrücklich und bestens geeignet, auch nachhaltig zu sein. Und neugierig zu bleiben, immer offen für Bereiche, die etwas abseits zu liegen scheinen und in ihrer eigentlichen künstlerischen Gewichtigkeit nicht genügend erkannt sind. Schön, dass die Berliner Gäste darauf aufmerksam machen konnten; dies mit sehr direktem, voller Prägnanz und Verve berührendem, handfesten Zugriff, bei dem sich in den schnellen Ecksätzen eine vielleicht hier und da gestalterisch etwas feinere Klinge vorstellen lässt.
Titelfoto von Geert Maciejewski