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Einfach Klassik.

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Beethoven mit Biss

Beethoven mit Biss – Ein CD-Review von Kai Germann

Das Beethoven-Jahr 2020 steht unter keinem guten Stern. Die Corona-Krise hält weltweit die Menschen im Würgegriff. Keine Tourneen, keine Konzerte – alles wurde abgesagt oder verschoben, teilweise auf unbestimmte Zeit. Eine der derzeit wenigen Möglichkeiten, sich dem Bonner Musikgenie zu nähern, beschränkt sich unter anderem auf den Kauf von Tonträgern. Eine ganz besondere Aufnahme seiner Klaviersonaten möchte ich in diesem Review auszugsweise vorstellen. Sie ist ein wahres Trostpflaster in der „WirBleibenZuhause“-Zeit.

Das Projekt

Der amerikanische Pianist Jonathan Biss (geb. 1980 in Indiana) hat sein großes Beethoven-Projekt, die Einspielung sämtlicher 32 Klaviersonaten, 2011 begonnen und im vergangenen Jahr abgeschlossen. Herausgekommen ist dabei eine präzise und analytische Studie mit persönlichem Interpretationsansatz, und einer hervorragenden pianistischen Leistung.

Die Komplett-Box mit insgesamt 9 CDs ist im März 2020 frisch auf dem Musikmarkt erschienen. Lohnt sich die Anschaffung, auch wenn man die Sonaten schon dutzendfach im Schrank liegen hat? Die Antwort ist eindeutig: Ja!

Beethoven war dafür bekannt, seine Kompositionen mit Widmungen zu versehen (diversen Biographen zufolge häufig auch gegen bare Münze). So ist zum Beispiel die Sonate Nr. 1 in f-Moll op. 2 eine Widmung an Beethovens Lehrmeister Joseph Haydn. Biss spielt das Stück mit einer emotionalen Ergriffenheit, die den inneren Konflikt des jungen Beethoven deutlich spürbar macht. Obwohl gerade in dieser Sonate die Einflüsse von Haydn deutlich hörbar sind, handelt es sich dennoch um eine von der musikalischen Rhetorik her eigenständige Komposition. Keine Schülerarbeit, sondern eher die Formung einer eigenen Stilistik. Jonathan Biss gelingt hier eine mitreißende Interpretation voller Dramatik.

Träumerisch – ohne Pathos

Als Beethovens Durchbruch seines Ausdrucksstils wird in der Regel die Klaviersonate Nr. 8 in c-Moll op. 13, auch „Pathetique“ genannt, bezeichnet. Biss spielt die langsame Einleitung mit ungeheurer Empathie, und fesselt den Zuhörer durch eine enorme pianistische Brillanz. Der weltberühmte zweite, sehr melodische Satz, das sogenannte „adagio cantabile“, träumerisch aber ohne übertriebenen Pathos gespielt, lässt die Sonate durch ihre Sogwirkung noch lange nachklingen. Der dritte Satz gerät dann fließend und gleichzeitig lyrisch in der Interpretation. Einfach die Augen schließen und zuhören.

Beethovens wohl bekannteste Sonate ist die von ihm selbst als „Sonata quasi una Fantasia“ bezeichnete „Mondscheinsonate“, die Nr. 14 op. 27 Nr. 2 in der Reihenfolge. 1801 fertigstellt, ist dieses fast schon rhapsodische Stück der Inbegriff einer hypnotisierenden Melodie. Biss spielt das „adagio sustenuto“ zutiefst bewegend, aber ohne zu erdrücken. Eine Balance zwischen Traurigkeit und tiefer Sehnsucht. Der nahtlose Übergang zum „allegretto“ gelingt scheinbar mühelos. Im dritten Satz dominieren dann Kraft, Vitalität und technische Raffinesse. Fast schon stürmisch fliegt Biss über die Tastatur in einem fulminanten Finale.

Waldstein

Die seinem Freund und Gönner, dem Grafen Waldstein gewidmete „Waldstein-Sonate“ (Nr. 21 op. 53) war zur Zeit der Entstehung im Jahre 1803 eine stilistische Revolution und ist bis heute eine große Hürde für jeden Pianisten. Jonathan Biss meistert diese Herausforderung mit einer absolut virtuosen Performance. Es gibt kein adagio in dieser Sonate. Das Stück ist ein einziges Feuerwerk, und sprüht vor Temperament und sich wiederholenden, wilden Akkorden.

Mit der Veröffentlichung der CD-Box „Beethoven – The complete piano sonatas“ ist Jonathan Biss in der Tat ein großer Wurf gelungen. Um nicht missverstanden zu werden: es gibt definitiv keine perfekte Einspielung dieser pianistischen Meisterwerke. Mal ist die Interpretation in sich nicht schlüssig oder es hapert eindeutig an der Klangqualität. Was nützt dem Pianisten seine Brillanz, wenn der Flügel blechern klingt, die Mikrofone falsch platziert sind oder das permanente Hüsteln des Publikums während einer Live-Aufnahme den Hörgenuss verdirbt? Und was hat der Hörer von einer Sonate, die zwar technisch einwandfrei gespielt, aber viel zu analytisch, ohne jede Emotion in die Tasten gehämmert wird? Biss ist da anders. Sein zupackendes und gleichzeitig forschendes Spiel lässt selbst die weniger bekannten Sonaten in neuer Größe erstrahlen.

Beethoven mit Biss
Jonathan Biss, Foto von Benjamin Ealovega

Brendel, Gulda, Pollini, Buchbinder, Ashkenazy, um nur einige der bekanntesten Klaviervirtuosen zu nennen, es gibt Unmengen an Gesamteinspielungen der wohl berühmtesten Klaviersonaten aller Zeiten. Warum also gerade Biss? Zum Beispiel, weil ihm der Spagat zwischen künstlerischer Ausdruckskraft und technischer Brillanz in bemerkenswerter Form gelingt. Und weil er spannend ist. Biss bringt Beethoven nahe zum Hörer und baut eine eloquente Intimität auf.

Hinzu kommt eine fantastische Aufnahmequalität der CDs. Der warme, tiefe und schwere Klang des Steinway-Flügels ist von den Tonmeistern hervorragend eingefangen worden. Man hat den Eindruck, direkt im Zentrum der Musik zu stehen. Kein Beethoven für Einsteiger, sondern eher für Entdecker.

Trackliste

CD1

1-3 Piano Sonata No.5 in C minor, Op.10 No.1

4-7 Piano Sonata No.11 in B flat major, Op.22

8-11 Piano Sonata No.12 in A flat major (‘Funeral March’), Op.26

12-14 Piano Sonata No.26 in E flat major (‘Les Adieux’), Op.81a

CD2

1-4 Piano Sonata No.4 in E flat major, Op.7

5-7 Piano Sonata No.14 in C sharp minor (‘Moonlight’), Op.27

8 Fantasy in G minor, Op.77

9-10 Piano Sonata No.24 in F sharp major (à Thérèse), Op.78

CD3

1-4 Piano Sonata No.15 in D major, Op.28

5-7 Piano Sonata No.16 in G major, Op.31 No.1

8-10 Piano Sonata No.21 in C major, Op.53 (‘Waldstein’)

CD4

1-4 Piano Sonata No.1 in F minor, Op.2 No.1

5-7 Piano Sonata No.6 in F major, Op.10 No.2

8-9 Piano Sonata No.19 in G minor, Op.49 No.1

10-12 Piano Sonata No.23 in F minor, Op.57 (‘Appassionata’)

CD5

1-4 Piano Sonata No.3 in C major, Op.2 No.3

5-7 Piano Sonata No.25 in G major, Op.79

8-9 Piano Sonata No.27 in E minor, Op.90

10-12 Piano Sonata No.28 in A major, Op.101

CD6

1-3 Piano Sonata No.9 in E major, Op.14 No.1

4-7 Piano Sonata No.13 in E flat major, Op.27 No.1 (‘Sonata quasi una fantasia’)

8-11 Piano Sonata No.29 in B flat major, Op.106 (‘Hammerklavier’)

CD7

1-4 Piano Sonata No.2 in A major, Op.2 No.2

5-6 Piano Sonata No.20 in G major, Op.49 No.2

7-9 Piano Sonata No.17 in D minor, Op.31 No.2 (‘The Tempest’)

10-12 Piano Sonata No.30 in E major, Op.109

CD8

1-3 Piano Sonata No.8 in C minor, Op.13 (‘Pathétique’)

4-6 Piano Sonata No.10 in G major, Op.14 No.2

7-8 Piano Sonata No.22 in F major, Op.54

9-11 Piano Sonata No.31 in A flat major, Op.110

CD9

1-4 Piano Sonata No.7 in D major, Op.10 No.3

5-8 Piano Sonata No.18 in E flat major, Op.31 No.3

9-10 Piano Sonata No.32 in C minor, Op.111

Icon Autor lg
Kai Germann ist Pädagoge und war 15 Jahre lang Radiomoderator in unterschiedlichen Sendeformaten. Schon als Jugendlicher früh durch Oskar Werner inspiriert, hat er sich intensiv mit Poesie, Literatur und klassischer Musik auseinandergesetzt und auch selbst Klavier gespielt. Neben dem Schwerpunkt Wiener Klassik liebt er Musik in all ihren Facetten. Er schreibt Film-Rezensionen und Klassik-Reviews (Konzerte, CD-Neuerscheinungen, Buchbesprechungen), führt Interviews zum Thema Film, Theater, klassische Musik, und hält sich gerne in Salzburg auf. Kai Germann möchte mit seinen Beiträgen nicht nur Kenner, sondern auch Neueinsteiger jeden Alters für die vielen unterschiedlichen Facetten der klassischen Musik begeistern.
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