Ein Konzert für Harfe und Orchester ist schon das etwas andere Solokonzert. Es hat durchaus andere Dynamiken als ein Klavier- oder Violinkonzert. Strukturen sind feingliedriger, Kooperationen zwischen Instrumentengruppen und Solistin passieren häufiger und sind in den Dynamikbereichen anspruchsvoller. Nach vorne drängende Tutti-Passagen des Orchesters gibt es dagegen eher weniger, geben sie dem Soloinstrument ja kaum die Möglichkeit, in Erscheinung zu treten.
Die in Hamburg lebende französische Solo-Harfenistin Anaëlle Tourret hat für ihr zweites Album ein interessantes wie beachtenswertes Konzept gewählt. War ihr Debüt noch auf Solowerke für ihr Instrument ausgerichtet, so bringt sie uns nun konzertante Werke.
Anaëlle Tourret mit Meisterschaft
Vielleicht verwundert es nicht, dass sie mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester eines der namhaftesten Orchester gewinnen konnte; schließlich ist sie selbst darin die Solo-Harfenistin. Dadurch ist man dann perfekt eingespielt, und im Niveau komplementieren sich beide Elemente, Solistin und Orchester, gegenseitig. Die im großen Saal der Elbphilharmonie durchgeführte Aufnahme des „Konzertes für Harfe und Orchester in Es-Dur, Op. 74“ von Reinhold Glière ist ein Meilenstein, den Anaëlle Tourret in ihrer Karriere nun gesetzt hat. Und sie hat dafür ein sehr lyrisches Werk mit harmonisch attraktiven Flächenstimmungen, bestechenden Melodien und großer Erzählkraft gewählt. Man merkt, wie sehr ihr das Konzert am Herzen liegt und wie sehr sie sich ihrem Stammorchester zuwenden kann. Denn Glières Werk arbeitet mit den bereits erwähnten Wechselspielen der teilnehmenden musikalischen Parteien; harmonie- und führunggebende Ebenen werden ineinander verwoben, Erzählstränge werden fix weitergegeben.
Tatsächlich geschieht das in fast jedem Solokonzert, aber die Dichte dieser Ereignisse ist in Glières Harfenkonzert schon beeindruckend. Und da wirkt die hohe Eingespieltheit von Orchester und Solistin fast Wunder. Denn die Harfe als Soloinstrument in Szene zu setzen, fordert mehr Flexibilität und Konzentration vom Orchester als bei einem Klavierkonzert. Hier muss Dynamikarbeit viel präziser und akkurater durchgeführt werden, und das hat der Dirigent Vasily Petrenko mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester meisterhaft erreicht. Geschickt öffnen die Musiker*innen ihrer Solo-Harfenistin die Räume und protegieren sie so perfekt bei ihrem konzertanten CD-Debüt. Wenn sich aber Räume öffnen, dann muss man sie auch nutzen. Und hier begeistert dann die Meisterschaft von Anaëlle Tourret. Sie vereint so viel in ihrem Spiel: technisch höchste Virtuosität, tragende Tongestaltung, äußerst plastische Phrasierung endloser Arpeggien und Tonfolgen. Am beeindruckendsten sind für mich die kräftigen Akkorde, bei denen die Harfe dann mal nicht nur mit einzelnen Melodien führt, die von der Harfenistin stark und präsent in den mittlerweile berühmten Raum der Elbphilharmonie gestellt werden.
Im zweiten Satz „Tema con variazioni“ platziert Anaëlle Tourret die einprägsame Melodie mit viel Tiefe und dynamischer Weite, und man merkt, dass sie auch die klassische, althergebrachte klangliche Rolle ihres Instruments begrüßt. Bei ihr muss sich die Harfe nicht verbiegen, muss nicht etwas anderes sein, und dadurch kann ein Werk wie Glières Konzert unter Tourret seine ganze Schönheit entfalten, auch weil sich ihr Orchester auf diese Aspekte der Weichheit und Transzendenz im Klang wunderbar einlassen kann.
Starker zweiter Teil
Zwei weitere Werke wurden für das Album aufgenommen, dafür war jedoch Kammerbesetzung erforderlich, und so wurde mit dem Stuttgarter Kammerorchester ein weiterer Ensemblepartner gewonnen. Die Orchesterleitung durch die israelische Dirigentin Bar Avni komplettierte die interessante Auswahl, die sich dann noch im Aufnahmeort fortsetzte. So viel Charisma die Elbphilharmonie für das erste Werk hatte, so wenig scheint das SparkassenForum Böblingen für die zweite Aufnahme auf den ersten Blick anzubieten. Aber weit gefehlt. Das als kultureller Veranstaltungsort genutzte Forum hat Konzertsaalakustik, und für die aufgenommene Besetzung finde ich den Raumklang der Aufnahme wirklich ganz hervorragend! Die Harfe wird vom Saal wohlwollend aufgenommen und getragen, die Pizzicati der Bässe brummen wohlig, rund und exakt dosiert.
Das „Concertino for Harp & Chamber Orchestra, Op. 45“ des ungarischen Komponisten Ernst von Dohnányi ist ein harmonisch vielschichtig changierendes Werk, das in reichen Fantasiefarben erzählt. Neben der Harfe können sich auch die hohen Bläser, Klarinette, Oboe und Flöte in den Vordergrund spielen und gehen zeitweise bezaubernde Kooperationen mit dem Soloinstrument ein. Und da zeigt sich einmal mehr das souveräne, interpretationssichere Spiel von Anaëlle Tourret, wenn sie abgesehen von den alleine gespielten Solopassagen diese Momente der Zwiesprache gestaltet, sich in genau passend gewähltem Maß auf ihre Spielpartner*innen einlässt, sich aber dann auch wieder als Soloinstrument abgrenzt, wenn es erforderlich ist.

Ihre perfekte Gestaltung der vielen harfentypischen Arpeggienbögen machen mir große Freude, und sie bringen die Stärken und Schokoladenseiten des Instruments perfekt hervor.
Bestechendes Dirigat
Wie schon bei der ersten Aufnahme des Albums bringt auch hier das Dirigat, diesmal durch Bar Avni, das Orchester auf den Punkt passend in die Interpretation für diese Art Solokonzert; das gilt dann auch für die „Deux Danses pour harpe avec accompagnement d’orchestre“ von Claude Debussy, deren fantastische musikalische Themen und Erzählkraft sich hier ideal entfalten können.
„Perspectives Concertantes“ von Anaëlle Tourret ist ein bemerkenswertes Klassik-Album, auf dem die Harfenistin zeigt, wie ihr Instrument in Solokonzerten funktioniert und wie viel Freude wir damit haben können!