Wo andere Pianisten seines Alters vielleicht gerade ihre erste Debüt-CD vorlegen, ist der in Ankara geborene, heute in Weimar lebende Pianist Can Çakmur bereits mit langem Atem auf einer musikalischen Langstrecke unterwegs, die für andere schon ein Lebenswerk darstellen könnte: Die Einspielung des gesamten Klavierwerks von Franz Schubert, voraussichtlich auf einem knappen Dutzend Tonträgern. Mit seiner vierten CD hat er bereits ein Drittel dieses pianistischen Aufnahme-Marathons hinter sich gebracht. Dabei geht es nicht um Schubert allein, wovon schon der Arbeitstitel „Schubert plus“ zeugt, denn Can Çakmur haben es die verborgenen Dialoglinien zwischen Komponisten verschiedener Epochen angetan. Teil vier der Serie widmet sich nun dem Impromptu – jener musikalischen Gattung, die wie ein klangliches Prisma die flüchtigen Momente der Inspiration einfängt und dabei tiefgreifende ästhetische Transformationen der romantischen Ära und darüber hinaus reflektiert.
Die Einbeziehung zweier Impromptus von Jan Václav Voříšek – einem böhmischen Zeitgenossen Schuberts, dessen Werk oft im Schatten der großen Namen verblasst – legt gewissermaßen die Voraussetzungen für Schubert offen. Denn unter Can Çakmurs Händen offenbart sich die Rolle dieser Stücke als aufschlussreiche Vorläufer, die letztlich auch Schuberts tonsprachliche Entwicklung in neuem Licht wahrnehmen lassen.
Bei Schubert tun sich viel größere Tiefen auf
Eine andere Tiefendimension tut sich dann sofort auf, wenn Franz Schuberts vier Impromptus D 899 unter Can Cakmurs Händen zu dem werden, was sie sind – nämlich vielschichtige Seelenlandschaften voller gewichtiger Ausdruckstiefe. Das innere Beben dieser Musik, ihre fiebrigen Tonrepetitionen und der subtil tragische Tonfall des ewig Wandernden kommen bei Çakmur nicht mit zu viel Schwere, sondern erstaunlich luftig zum Klingen. Egal in welche Seelentiefen so etwas vordringt und welche emotionale Doppelbödigkeit hier in der Luft liegt – die Musik atmet und fließt, wenn Can Çakmur sie spielt. Die völlig natürlich Eloquenz, die dem Spiel des 28-Jährigen anhaftet, braucht keine virtuose Selbstdarstellung, um die ganze innere Struktur dieser Musik zu entblößen. Auf jedes schwärmerische Überzeichnen verzichtend, legt er stattdessen Wert auf kristalline Stimmführung und fein abgewogene dynamische Nuancen, die dem emotionalen Gehalt dieser Werke und damit auch beim Hören für neue Erlebnisdimensionen sorgen. Und auch in den Momenten fiebriger Emphase behält Çakmur eine Balance, die das Expressive mit dem Kontrollierten versöhnt.
Can Çakmur – Zwischen romantischem Erbe und musikalischer Zukunft
Die vier Impromptus von Frédéric Chopin und die zwei Werke von Alexander Skrjabin bringen andere Farbnuancen in diese aufschlussreiche Gesamtbild. Chopins Impromptus gestaltet Çakmur leichtfüßiger, verträumter und kontemplativ und im vierten Stück rauschhaft virtuos und mit viel temperamentvollen Sturm und Drang im Spiel des jungen Pianisten. Ebenso ist er bei Skrjabin, der seine kühnen Brücken zwischen Romantik und musikalischer Zukunft baut, mit sicherem Kompass unterwegs und navigiert souverän zwischen harmonischen Abgründen und expressiven Höhenflügen.
Can Çakmur bevorzugt den Shigeru-Kawai-Flügel und stellt dessen spezifische Merkmale in den Dienst der eigenen künstlerischen Sache. Da geht es wohl auch um die besondere Ansprechbarkeit dieses Instruments, was eben, vor allem in den Mittellagen, jene klanglichen Zwischentöne und Schattierungen ermöglicht, die seinen poetischen Interpretationen das gewisse Etwas verleihen.
Fazit: Das Volume 4 von Can Çakmurs Schubert-plus Reihe ist eine Einspielung, die über die reine Faszination des Klangs hinaus neue intellektuelle Horizonte öffnet und Zusammenhänge erschließt – das wirkt im Falle der Impromptus wie ein eloquentes Plädoyer für die zeitlose Relevanz einer zu Unrecht oft als bloße Miniatur abgetanen musikalischen Gattung.