Der 1. Jänner eines jeden Jahres ohne das traditionsreiche Auftaktkonzert der Wiener Philharmoniker wäre einfach unvorstellbar. Klassik-Freunde benötigen in der Regel keinen Kalender, um sich an den Termin für die Ausstrahlung zu erinnern. Hohe Einschaltquoten sind weltweit garantiert, alleine in Österreich betrug der Marktanteil erwartungsgemäß mehr als 60 %, in Deutschland hingegen dümpelte der Begeisterungsquotient bei nicht ganz 20 v.H..Und direkt nach dem Ende der letzten Noten des Radetzky-Marschs läuft die am Projekt beteiligte Musikindustrie gewöhnlich auf Hochtouren an, damit in alljährlicher Rekordzeit die CD-Ausgabe spätestens 14 Tage später in den Regalen liegt. „The same procedure as every year“, wird so mancher Beobachter nicht ganz zu Unrecht kritisieren. So badete das elitäre 2Gplus-Publikum in üblicher Walzer und Polka-Glückseligkeit in Werken der Strauß-Dynastie, hier eine Prise Johann jun. oder sen., gewürzt und geschmacklich abgerundet mit Stücken von Eduard und Josef. Nur selten haben andere Größen die Chance, den magischen Zirkel zu durchbrechen. Lehár (Zarewitsch-Walzer) und Millöcker (Jonathan-Walzer) verirren sich nur vereinzelt in den großen Saal des Wiener Musikvereins und auch Robert Stolz (Zwei Herzen im Dreivierteltakt) durfte erst 2016 mit seinem „Uno-Marsch“ unter Mariss Jansons Premiere feiern. Immerhin wird Josef Lanner (Die Schönbrunner) schon häufiger die Ehre zuteil, während Ivanovici (Donau Wellen Walzer) dagegen bis heute nicht zur Kenntnis genommen wird. Von einem „Kessel Buntes“ kann somit nicht die Rede sein. Wie frevelhaft und vermessen wäre aber der Ruf nach Veränderungen im Programmablauf, angefangen bei den berühmt-berüchtigten Zugaben der üblichen Verdächtigen? Der Graf Radetzky von Radetz würde sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen und die Donau ihre beliebte Farbe wechseln. Das wollen wir natürlich keinesfalls riskieren, Denkverbote aber genauso wenig.
Premieren
Erfreulicherweise durfte sich die Zunft der Neujahrskonzert-Gilde über einige Premieren freuen und das sogar direkt zu Beginn der Veranstaltung. Der im kommenden November 80 Jahre alt werdende Tausendsassa Daniel Barenboim dirigierte das Spektakel nun schon zum dritten Mal nach 2009 und 2014. Den Auftakt bildete der „Phönix-Marsch“ des oftmals unterschätzten Josef Strauß. Wohl um den bedingt durch die Corona-Pandemie flügellahm gewordenen Phönix aus der Asche regelrecht zu beschwören, wurden die „Phönix-Schwingen“ des entschieden berühmteren Bruders Johann unmittelbar angehängt und nach der wiederum von Josef komponierten „Sirene“ galoppierte der „Kleine Anzeiger“ von Josef Hellmesberger jun. quer durch den Saal des ehrwürdigen Konzerthauses. Im Verlaufe des Walzer- und Polka-Reigens konnte sich der geneigte Zuschauer dann mit den herrlichen und werbeträchtigen Landschaften Österreichs, flankiert von mittlerweile etwas altbacken wirkenden Ballett-Einlagen, vertraut machen. Miss Sophie wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entzückt gewesen.
Klanglich und interpretatorisch wirkt die CD-Aufnahme zwar edel, aber auch auffällig unspektakulär. Zum Beispiel nimmt Barenboim bei der „Fledermaus-Ouvertüre“ die Streicher hörbar zurück, dadurch kommt der „Schmiss“ etwas zu kurz und auch dem „Radetzky-Marsch“ des Bonus-Programms fehlt die rhythmusbetonte Dynamik. Insgesamt interpretiert (wogleich er den Begriff „interpretieren“ nicht sonderlich schätzt) der Maestro die Walzer sehr sinfonisch und weniger tänzerisch. Der typische „Schmäh“ fehlt in Gänze, die Produktion wirkt eher auf Hochglanz poliert. Das es auch anders geht und ging, zeigen im Sammelsurium der Vergleiche die Neujahrskonzerte von Karajan 1987 oder auch Nikolaus Harnoncourt von 2003. Dirigenten, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, aber mit jeweils eigenen Akzenten in der Auswahl der Stücke sowie der Interpretation. Unvergessen auch die pure Energie ausstrahlenden Konzerte von Carlos Kleiber 1989 und 1992.
Neujahrskonzert 2022 ambivalent
Fazit: die gepflegte Langeweile der TV-Ausstrahlung überträgt sich auch auf den Tonträger. Zwar gibt es an der klanglichen Umsetzung nichts auszusetzen, insgesamt gesehen hinterlässt die Einspielung aber einen eher ambivalenten Eindruck. Für die kommende Zeit würde ich mir mehr Mut für eine Entstaubung des Konzepts wünschen. Mit einem Dirigenten wie zum Beispiel Teodor Currentzis am Pult könnte ein solches Vorhaben durchaus gelingen. Aber wahrscheinlich ist die Zeit dafür in Wien noch nicht reif genug.