Mit dem gesamten Liederwerk des russisch-deutschen Komponisten Nikolai Medtner haben Ekaterina Levental und Frank Peters eine einzigartige kulturgeschichtliche Primärquelle erschlossen.
Während unseres intensiven Gesprächs zu dritt hatten Ekaterina Levental und Frank Peters quasi drauf bestanden, dass ich auf jeden Fall sämtliche fünf CDs dieser Gesamtedition kennen lernen sollte, da mir bis dahin nur die letzte, fünfte Veröffentlichung vorlag. Gesagt, getan – ein Weilchen später traf das Paket mit allen fünf Aufnahmen der Gesamtedition sämtlicher Lieder des russisch-deutschen Komponisten Nikolai Medtner ein. Die Bereicherung, die daraus hervorging, war immens – immerhin handelt es sich hier um nichts geringeres als eine kulturgeschichtliche Primärquelle, welche dieses niederländische Duo mit Leidenschaft und immenser Arbeitsleistung reanimiert hat.
Nikolai Medtner (1880-1951) wurde von seinem engen Freund Sergej Rachmaninoff als „größter lebender Komponist“ gerühmt, und doch hat ihn die Musikgeschichte bislang so seltsam vernachlässigt. Dank Ekaterina Levental und des Pianisten Frank Peters liegt nun die erste und einzige Gesamtaufnahme aller 108 Lieder dieses zwischen russischer und deutscher Kulturtradition wandelnden Komponisten vor. Das Duo ist bei dieser Edition sehr systematisch vorgegangen: Die fünf CDs bilden Medtners künstlerische Entwicklung und seine Verwurzelung in beiden Kulturräumen mit großer Klarheit ab. Die Vielschichtigkeit dieses Materials steht für eine vergessene Dimension europäischer Kulturgeschichte, welche durch politische Grenzen und sowjetische Zensur lange verstellt blieb.
Systematisch, chronologisch und vielschichtig
Ich habe die fünf Alben chronologisch „abgearbeitet“, und das war gut so. Die Reise begann mit „Incantation“ (Beschwörung), die zentrale Aspekte von Medtners Liedästhetik vorstellt. Beim ersten Hören schon war ich gefesselt von dieser dem russischen Sprachklang folgenden Melodieführung, die sich mit komplexen Klaviertexturen verbindet, was besonders eindrucksvoll in der Puschkin-Vertonung mit dem übersetzten Titel „Ich liebte sie“ hervortritt. Levental, deren Debüt-CD „Incantation“ 2021 nicht zufällig den Pure Sound Award erhielt, gestaltet nicht nur dieses Lied mit einer Textklarheit und emotionalen Tiefe, die tief berührt. Ihr Timbre fängt die Zwischentöne zwischen Resignation und Erinnerung überzeugend ein, während Peters die harmonischen Farbschattierungen mit kristalliner Klarheit zum Leben erweckt.
Die zweite CD „Sleeplessness“ (Schlaflosigkeit) dringt in andere Bewusstseins-Sphären vor und kreist um nächtliche Gedanken und einen Zustand zwischen Wachen und Träumen. Leventals behutsame dynamische Abstufungen lassen den Text manchmal aus der Stille entstehen, während Peters mit kreisenden Ostinati das unerbittliche Zeitgefühl schlafloser Nachtstunden hörbar macht – eine lautmalerische Umsetzung innerer Einsamkeit von berührender Intensität.
Mit „Angel“ (Engel) geht es auf dem dritten Volume mitten hinein in spirituelle Dimensionen. Lermontows Vision eines Engels, der eine neugeborene Seele zur Erde bringt, gewinnt durch Leventals klares, schwebendes Timbre eine eindringliche Ausdruckskraft. Bemerkenswert ist auch jene „Suite-Vocalise“ op. 41 Nr. 1, wo Leventals instrumentale Stimmbehandlung und Peters‘ durchsichtig-virtuoses Klavierspiel zu einer bemerkenswerten Einheit verschmelzen.

„Wandrers Nachtlied“, das Volume 4 dieser Edition, offenbart Medtners tiefe Verbindung zur deutschen Kultur, die man als selbstverständlich im 19. Jahrhundert betrachten könnte. Beeindruckend ist immer wieder Leventals natürliche Phrasierung deutscher Texte, ihre Artikulation wirkt dabei überhaupt nicht angelernt. Peters wiederum gestaltet die strukturell klareren, formal durchdachteren Werke dieser CD mit einer Transparenz, die die motivischen Zusammenhänge offenlegt und doch den emotionalen Gehalt nie hinter akademischer Strenge verschwinden lässt.
Die Abschluss-CD „Sacred Place“ (Geweihter Platz) vereint verschiedene Sprachen und Stilebenen zu einer Synthese. Die zwei unterschiedlichen Vertonungen von Goethes „Geweihter Platz“ – einer poetischen Reflexion über künstlerische Inspiration – lassen Medtners stilistische Entwicklung einmal mehr hörbar werden. Das erstmals veröffentlichte Lied „Wie kommt es?“ nach einem Text von Hermann Hesse erhält durch Leventals sensible Gestaltung und Peters‘ zurückhaltende Begleitung die Qualität eines intimen musikalischen Vermächtnisses, das gilt wiederum auch für mehrere Lieder nach poetischen Texten von Friedrich Nietzsche.
Musikalische Konstanten in einem höchst vielschichtigen Werk
Es verdient allein schon höchste Anerkennung, wie in sieben Jahren über fünf CD-Aufnahmen hinweg derart überzeugend musikalische Konstanten realisiert worden sind – vor allem, wo das Gesamt-Oeuvre dieses Komponisten so divers und vielschichtig daherkommt: Da steht in jedem Moment die feinfühlige Behandlung der Sprachmelodie im Dienst der künstlerischen Sache. Ekaterina Leventals Mezzosopran besticht hier durch seine große Wandlungsfähigkeit – vom dunklen, samtigen Timbre bis zu strahlender Intensität, während sie dabei mühelos zwischen den Sprachen wechselt. Peters‘ Klavierkunst entfaltet orchestrale Dimensionen, ohne je die Balance zum Gesang zu verlieren. Er macht die vielschichtige motivische Arbeit Medtners hörbar und verleiht den eigenständigen Vor-, Zwischen- und Nachspielen eine expressive Tiefe, die den emotionalen Rahmen der Texte bedeutsam erweitert.
Im Gespräch mit den beiden war viel von Medtners eigener Philosophie die Rede. Sein Credo: „Wir erschaffen nichts, wir entdecken nur, was bereits existiert.“ In diesem Sinne haben die beiden hier Großes geleistet, um die emotionale Substanz jedes Liedes freizulegen. Ihr Ziel, „dass sein lebenslanges, aufopferungsvolles Schaffen nicht in Vergessenheit gerät“, haben sie – davon bin ich nach meiner intensiven Begegnung mit diesen Aufnahmen überzeugt – eindrucksvoll erreicht.