Wenn die Erkundung, Erarbeitung und Interpretation eines Werkes etwas mit Bezwingen zu tun hat, dann muss dies für die sechs Violinsonaten von Eugène Ysaÿe im Besonderen gelten – vor allem, wenn gleich alle sechs Gipfel dieses uneinnehmbar wirkenden Gebirges überschritten werden. Auf diesen fordernden Weg begab sich der junge Geiger Elvin Hoxha Ganiyev für seine neue CD, die in manchen Aspekten sogar eine souveräne Überlegenheit gegenüber prominenteren Einspielungen offenbart.
Was Ysaÿe 1923 als Antwort auf Bachs Sonaten und Partiten schuf, sprengt die Grenzen des für ein Soloinstrument scheinbar Möglichen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vertiefte der belgische Komponist sein Nachdenken über die spielerischen Möglichkeiten der Violine. Seine sechs Sonaten verbinden barocke Formprinzipien mit der musikalischen Sprache des frühen 20. Jahrhunderts, durchsetzt von Chromatik, Ganztonleitern und permanenten, auch große Intervallsprünge durchmessende Doppelgriffpassagen. Ja, eigentlich gibt es in diesen sechs Sonaten nur ganz wenige Momente, wo nur eine einzige Stimme aus dem Instrument kommt. Eugène Ysaÿe kann nur einer der besten Geiger seiner Zeit gewesen sein, um so eine Musik zu schreiben und hat dennoch jede Sonate einem bedeutenden „Kollegen“ seiner Zeit gewidmet.
Eugène Ysaÿe kühne Auseinandersetzung mit spielerischen (Un-) Möglichkeiten auf dem Instrument dürfte Elvin Hoxhar Ganiyev, zusätzlich Nahrung gegeben haben. Gerade mit seinem frisch absolvierten Konzertexamen in der Tasche, begab er sich mit viel Entdeckerlust auf die Gratwanderungen – und ja, sein Spiel auf dieser Debut-CD wirkt tief in sich ruhend und von einem nie außer Kontrolle geratenden Formgefühl getragen, was ihm – und das muss hier gesagt sein – kaum jemand in dieser Kontinuität über sechs Sonaten hinweg nachmacht. Umso mehr zieht sein Spiel in die formalen und geistigen Tiefengründe dieses kolossalen Werkes hinein, eben weil es alles rein Circensische weit hinter sich lässt.
Ein neuer Maßstab für Ysaÿes Gipfelwerk mit Elvin Hoxha Ganiyev
Schon die majestätische, von düsterer Dramatik geprägte erste Sonate bewältigt Ganiyev mit selbstbewusster, klarer Fokussiertheit. Besonders im Fugato demonstriert er seine Fähigkeit, komplexe kontrapunktische Strukturen klar herauszuarbeiten, während er im „Allegretto poco scherzoso“ spielerische Leichtigkeit mit präziser Artikulation verbindet. Die zweite Sonate, Jacques Thibaud zugeeignet, bildet mit seiner Omnipräsenz des „Dies-Irae“-Chorals einen Höhepunkt der Einspielung. In der „Obsession“ gelingt Ganiyev eine überzeugende Verschränkung der Bach-Reminiszenzen mit Ysaÿes eigenem Tonfall. Die „Danse des Ombres“ entwickelt aus unschuldig leisen Pizzicati eine raffinierte Steigerungsdramaturgie, das gregorianische Motiv wird zum Thema einer Sarabande von rhetorischer Prägnanz. Im wilden Finale „Les Furies“ beeindrucken die vielen spieltechnischen Gegensätze auf engem Raum, erzeugen Effekte von Nähe und Ferne zwischen feinstem Pianissimo und kraftvollen Sforzati.

Bei aller Formstrenge und Betonung der spieltechnischen Expressivität offenbart sich auch in Ysaeyes weiteren Sonaten ein faszinierend facettenreiches Spektrum, welches Ganiyevs spielerische Durchdringung in jedem Moment erfahrbar macht. Das reicht von der spannungsvollen Verschränkung barocker Strenge und freier Expressivität in der ‚Ballade‘ der Enescu-Sonate über die zwischen eleganter Natürlichkeit und fragiler Intimität oszillierende Kreisler-Widmung bis zur impressionistischen Klangmalerei in der fünften Sonate. Die letzte, einsätzige „Quiroga“-Sonate verwandelt die extremen technischen Anforderungen – auch hier sind mehrstimmige Passagen und vertrackte Arpeggien Dauerzustand – in eine beschwingte Synthese wie ein leichtfüßiges Fazit, dass hier ein großes Unterfangen erfolgreich seinen Abschluss findet.
Die Realisierung dieser Tour de Force in nur drei Tagen in Hannover mit dem Tonmeister Gregor Zielinski unterstreicht die außergewöhnliche künstlerische Sicherheit des jungen Geigers, die selbst in der illustren Aufnahmegeschichte von Ysaÿes Solosonaten heraussticht und welcher dieser neuen CD auf Anhieb das Zeug zu einer neuen Referenzeinspielung gibt.