Als ich vor einigen Jahren quer durch Paris wanderte, war einer meiner Anlaufpunkte der berühmte Friedhof Pére Lachaise. Ich wollte unbedingt das Grab von Michel Petrucciani aufsuchen, einem viel zu früh verstorbenen Jazz-Pianisten, den ich sehr schätzte und dessen Spiel mich schon als Student faszinierte. Trotz Lageplan in der Hand hatte ich mich dennoch verlaufen. Bei der Größe des Friedhofs aber auch kein Wunder, umfasst dessen Spannbreite doch mehr als 10 Fußballfelder. Hilfesuchend sprach ich einen älteren Herrn an, ob er sich hier auskennen würde. Ich hatte Glück. Es handelte sich um einen französischen Touristen aus Marseille stammend, der häufiger in Paris zu Besuch war. Er war als junger Mann mehrere Jahre in Deutschland stationiert und wir kamen ins Gespräch. Ob ich Chopin kennen würde, fragte er mich beiläufig. Dessen Grab befände sich direkt neben dem von Petrucciani. Zwei Virtuosen der Piano-Musik lagen dicht beieinander. Dort angekommen, blieb ich vor der beeindruckenden Ruhestätte andächtig stehen. Wie von Geisterhand gespielt, erklang in meinem Kopf plötzlich die Nocturne Nr. 2 op.9. Gespenstisch schön aber auch irgendwie surreal. Ich nahm mir vor, mich künftig intensiver mit der Musik von Chopin zu beschäftigen. Wieder in Deutschland angekommen, waren sowohl die beiden Klavierkonzerte als auch die Nocturnen meine priorisierte Musikauswahl für die nächste Zeit.
Chopins insgesamt 21 Nocturnen gehören zu den schönsten, meist gespielten und meist aufgenommenen Werken der Klavierliteratur. Die immer wieder gestellte Frage: brauchen wir daher noch eine solche Einspielung? Jan Lisiecki hat für sein aktuelles Album sämtliche dieser wunderschönen Miniaturen neu aufgenommen. Sein empathisches und dichtes Spiel lässt den Hörer tief in die Gefühlswelt Chopins eintauchen. Er setzt eigene Akzente, da wo andere in triviale Gefilde abgleiten. Seine lyrische Art der Kommunikation mit dem Flügel erzählt kleine Geschichten voller Magie und Poesie. Melancholie zum Greifen spürbar nahe. Chopin selbst sagte einmal, das Einfachheit das höchste Ziel sei. Aber um die Einfachheit in der Schönheit zu erkennen, bedarf es eines Höchstmaßes an Virtuosität und Emotionalität. Jan Lisiecki verfügt über beide Eigenschaften. Erst kürzlich eröffnete er das Musikfestival in Schleswig-Holstein mit einer überragenden Interpretation des 3. Klavierkonzertes c-moll op. 37 von Ludwig van Beethoven unter der Leitung von Pablo Heras-Casado. Er war kurzfristig für die verhinderte Héléne Grimaud eingesprungen und sorgte mit seinem Spiel für ein eminent begeistertes Publikum.
Nun hat sich Jan Lisiecki aktuell wieder Chopin zugewandt und mit der Einspielung der kompletten Nocturnen zeigt er uns eine nuancenreiche und farbenreiche musikalische Welt in ihrer ganzen Bandbreite. Sein Spiel schmeichelt dem Ohr, ist intelligent ohne zu vergeistigen und es hat den Anschein, als singe er mit dem Instrument. Selbst harte Kontraste meistert er scheinbar völlig unbeeindruckt von technischen Herausforderungen. Somit wäre auch die eingangs gestellte Frage nach der Notwendigkeit einer weiteren Einspielung beantwortet.
Die Klangqualität der Doppel-CD ist einladend warm und in der Balance ausgewogen. War bislang Adam Harasiewicz in Sachen Chopin mein Lieblings-Pianist so bekommt er nun mit Jan Lisiecki einen ernsthaften Konkurrenten. Daher mein Tipp: unbedingt mal reinhören!