Es lohnt sich manchmal, Schubladen zu öffnen. Für die Schweizer Sopranistin Mélanie Adami führte ein Impuls von Neugierde zu einer Entdeckung, die wiederum zu einer tiefgreifenden persönlichen Erfahrung anwuchs und aktuell nichts geringeres als die aktuelle CD-Veröffentlichung „Vergessene Lieder, vergessene Lieb'“ hervorbracht hat. Denn in Mélanie Adamis Schreibtisch verborgen hatten Lieder ihres Urgroßvaters Willy Heinz Müller (1900-1974) sozusagen in einem geheimen Dornröschenschlaf dem Vergessen entgegen geschlummert. Aber dann wurd die Erkundung, Erstinterpretation und schließlich Aufnahme dieses Materials zu Mélanie Adamis Reise zu den eigenen familiären Wurzeln. Für das Gesamtprogramm der neuen Aufnahme wurden schließlich Werke weiterer Zeitgenossen, die teilweise in persönlichem Kontakt mit Willy Heinz Müller standen, herangezogen. Mélanie Adami wird dabei in einigen erlesenen Duetten vom Bariton Äneas Humm unterstützt, während die Pianistin Judit Polgar einfühlsam die gemeinsame Interaktion komplettiert.
Was sich hier in einer großen Bandbreite offenbart: Mélanie Adamis Urgroßvater, Willy Heinz Müller war ein begabter Komponist, der im frühen 20. Jahrhundert den Geist des Fin de Siècle in einer sehr individuellen Diktion kultivierte. In seinem Œuvre klingt ein spätromantisches Erbe nach, das sich aber durch viele subtile Nuancen und persönliche Emotionen auszeichnet und hier zum ersten Mal für die Nachwelt hörbar wird. Um sich hörend in die ganze Tiefe dieser Ausdruckswelt zu begeben, ist es hilfreich, zusätzlich die Texte im Booklet zu lesen. Denn dann verhilft mehr Bedeutungsebene zu noch tieferer emotionaler Wirkung, sobald Mélanie Adamis Stimme die meist melancholischen Texte vor allem von Hugo Binder und Victor Heindl mit der fein nuancierten kompositorischen Diktion von Willy Heinz Müller vereint. Was wiederum jene tiefe Seelenverwandtschaft plausibel macht, welche die schweizerische Sängerin zu ihrem Urgroßvater hatte – der ebenfalls genau wie sie eine vielgefragte Persönlichkeit im Musikleben war.
Müller vertonte auch Gedichte von Rainer Maria Rilke und Theodor Storm, was auf verklärte Traumsequenzen und so manch innige Momentaufnahmen von Abschied und Traurigkeit am Lebensende hinaus läuft. Adamis Stimme durchmisst all diese Welten mit kristalliner Klarheit und ergriffener Zerbrechlichkeit, was von einer hervorragend souveränen Balance zeugt. Kontraste bietet dieses Programm zuhauf: Müllers Kompositionen werden geschickt mit Werken von Zeitgenossen wie Ernst von Dohnányi, Franz Ries, Carl Götze, Eugen Hildach und Bela A. Laszky ergänzt. Dohnanyis Lied von der weinenden Geige, die ihren Spieler verloren hat, wirkt wie eine Allegorie auf die Vergänglichkeit künstlerischen Schaffens. Heitere Stücke, welche die Sonnenseiten der Liebe besingen, strahlen eine lebensbejahende Fröhlichkeit aus, die durch die jugendlich-vitalen Stimmen der Interpreten lebendig wird. Überhaupt sorgen Melanie Adamis Gesangsduette mit Äneas Humm für eine willkommene Aufhellung im Programm, ebenso wie der kunstvolle Zusammenklang zweier unterschiedlicher Gesangslinien den Rahmen in spannender Weise ausweitet.
Judit Polgar am Klavier erweist sich als sensible und hellwache Begleiterin, die den Sängern den perfekten Klangteppich für ihre emotionalen Exkursionen bereitet. Ihr Spiel ist nicht nur eine bloße Begleitung, sondern ein integraler Bestandteil des musikalischen Dialogs, der auf dieser CD zu hören ist.
„Vergessene Lieder, vergessene Lieb’“ ist eine CD, die sowohl durch ihre künstlerische Qualität als auch durch die leidenschaftliche Hingabe der Interpreten besticht. Sie bietet einen editorischen Mehrwert, indem sie längst vergessene Werke wieder zum Leben erweckt und dem Hörer neue, intime Einblicke in die unerschöpfliche Welt der Liedkunst gewährt. In der lebt das zeitlose Erbe der Romantik und noch mehr die individuelle Ausdruckskraft von Mélanie Adami, Äneas Humm und Judit Polgar.
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