Auch wenn man als professioneller Rezensent ständig mit einer Vielzahl von Musikeindrücken konfrontiert ist und es zum Alltag gehört, diese schnell zu verarbeiten, gibt es Hörerlebnisse, die sich irgendwie auf Anhieb tiefer ins Bewusstsein eingraben. In dieser Hinsicht zeigt sich zum Beispiel die große melodische Erfindungskraft und emotionale Dichte in der Kammermusik von Johannes Brahms, die genau diese Effekt erzeugt. Vorausgesetzt, da sind Interpreten in der Lage, solche Qualitäten aus der Tiefe heraus zu holen. So etwas findet bei der Violinistin Natalia van der Mersch und ihrem Partner Olivier Roberti am Klavier auf jeden Fall statt, wenn die sich auf ihrer neuen ARS-Aufnahme den drei Sonaten Opus 78, 100 und 108 angenommen haben.
Sowohl die Komposition dieser Werke durch Johannes Brahms, aber auch ihre neue Einspielung fanden in inspirierender Umgebung statt, was in beiden Fällen die Emotionen befreit fließen gelassen hat. Johannes Brahms verbrachte seine Sommer an idyllischen Seen in den Bergen, in diesem Fall am Wörther- und am Thunersee. Die luxemburgische Geigerin und der französische Pianist konnten für die Aufnahme wieder auf das belgische Schloss Conjou zurück greifen.
Tiefgründige Schönheit wird spürbar
Die Herausforderungen in dieser Musik sind immens – vor allem muss es dabei gelingen, alle technischen Schwierigkeiten in den Hintergrund treten zu lassen, wo es um das Fühlbahrmachen der musikalischen Essenz geht. Dafür bietet dieses Duo allemal genug Reife und Erfahrung auf. Zumal die künstlerische Partnerschaft mit Olivier Roberti schon seit Jahrzehnten besteht, sodass man von gelebter musikalischer Harmonie und einem ausgereiften, gemeinsamen Verständnis sprechen kann. Die hörbar befreite, fast entrückte Konversation zwischen den beiden Instrumenten ist hier also kein Zufall.
Der schwelgerische, leidenschaftlich aufblühende Ton von Natalia van der Mersch ist geerdet genug, dass er niemals im bloßen Wohlklang verharrt. Ihre Geige singt, erzählt und durchlebt die Musik, als wäre sie direkt aus der Seele des Komponisten entsprungen. Eben, weil sich Natalia van der Mersch niemals von der Versuchung einlullen lässt, die Musik rein ästhetisch zu betrachten. Stattdessen führt sie den Hörer durch die Höhen und Tiefen der emotionalen Landschaft, die diese Sonaten zu bieten haben – von sanfter Melancholie bis hin zu leidenschaftlichen Ausbrüchen.
Natalia van der Mersch mit Klarheit
Und das wiederum trifft auf das überlegen artikulierende, rhetorische Spiel des Pianisten zu, der mit stets feinem Gespür sämtliche Höhenflüge der Violinistin auffängt und unterstützt. Sein Spiel ist rhetorisch stark, mit präziser Artikulation und einer außergewöhnlichen Klarheit in der Phrasierung. Besonders beeindruckend ist seine Fähigkeit, mit seinen filigranen Klavierlinien klug dosierte sinfonische Bögen zu modellieren und dabei stets einen stützenden und ausgleichenden Part zu übernehmen. Auch Roberti meidet jede Form von übertriebener Virtuosität oder forciertem Ausdruck, sondern stellt stattdessen seine gereifte Musikalität in den Dienst der strukturelle und emotionale Komplexität im Werk von Johannes Brahms.
Ebenso lebt ein hervorragender Konsens, was dynamischen Nuancen und der Agogik anbelangt, hinter der eine jahrelange Vertrautheit dieser beiden leidenschaftlichen Künstlerpersönlichkeiten steht. Fazit: Dieses Hörerlebnis macht die zeitlose Gültigkeit und die tiefgründige Schönheit der Brahms’schen Kammermusik in aller Intensität spürbar.