Rom, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts: Während Martin Luthers Reformation Europa erschüttert, ringt die katholische Kirche um ihre musikalische Seele. Das Konzil von Trient fordert Klarheit statt komplexer Verschleierung, es soll um Verständlichkeit statt um gelehrte Kunstfertigkeit gehen. In dieser Zeit des Umbruchs komponiert Giovanni Pierluigi da Palestrina jene Werke, die fortan das Ideal katholischer Kirchenmusik definierten. Zum 500. Geburtstag des „Fürsten der Musik“ legen die Augsburger Domsingknaben und das Ensemble I Fedeli eine Aufnahme vor, die dieses bedeutsame Kapitel der Musikgeschichte nicht museal konserviert, sondern als lebendigen Organismus erfahrbar macht – Palestrina 500.

Palestrina fand eine geniale Lösung für das Dilemma seiner Zeit: Wie lässt sich die kunstvolle Polyphonie der Renaissance mit der geforderten Textverständlichkeit vereinbaren? Seine Antwort war ein Stil von zeitloser Eleganz – sanfte Kontrapunktik ohne harte Dissonanzen, imitative Polyphonie mit kristallklarer Stimmführung, modale Harmonik von spiritueller Tiefe.
Das polyphone Geflecht lesbar machen…
Stefan Steinemann, seit 2020 jüngster Domkapellmeister Deutschlands, führt hier die traditionsreichen Augsburger Domsingknaben mit bemerkenswerter interpretatorischer Reife. Die achtstimmige „Missa Fratres ego enim accepi“, Herzstück der Aufnahme, entfaltet sich mit einer Selbstverständlichkeit, die das komplexe polyphone Geflecht mühelos lesbar macht. Jede der acht Stimmen bewegt sich mit natürlicher Eleganz, ohne je die klangliche Einheit zu gefährden.
Im „Ave Maria“ entstehen Momente von berührender Intimität, wenn sich vokale und instrumentale Linien zu einem atmenden Ganzen verflechten. Die modale Harmonik, jene Klangsprache vor der Dur-Moll-Tonalität, entfaltet ihre ganze suggestive Kraft.

Das „Jubilate Deo“ demonstriert auf engem Raum die ganze Bandbreite dieser historisch informierten, aber niemals musealen Aufführungspraxis. Auch hier wird deutlich, warum der „Palestrina-Kontrapunkt“ bis heute Standardthema im Musiktheoriestudium ist: Seine Polyphonie vereint technische Perfektion mit unmittelbarer emotionaler Wirkung.
Gleichgewicht zwischen Form, Struktur und Harmonie
Hier wie dort wird deutlich, was den „Palestrina-Stil“ ausmacht: Das Ideal des Gleichgewichts zwischen Form, Struktur und Harmonie bleibt nicht als starre Doktrin bestehen, sondern entfaltet einen organischen Fluss. Die Ausdrucksdichte dieser Musik bleibt in jedem Moment sanft und subtil, vermutlich, weil Steinemann mit bewusster Zurückhaltung dirigiert, damit Palestrinas zeitlose Architektur ungefiltert zur Geltung kommt.
Ebenso unaufdringlich, aber dennoch in leuchtenden Klangfarben fügen sich die Instrumente des Ensembles I Fedeli ins fragile Gefüge ein. Ja, als perfekt gelungen darf man die Zusammenarbeit mit I Fedeli, dem beteiligten historischen Instrumentalensemble, getrost bezeichnen. Mit Zinken, Posaunen, Streichinstrumenten und Pfeifenorgel fühlt sich diese Besetzung mitten in jener historischen Aufführungspraxis des 16. Jahrhunderts bestens zuhause. Da begeistert viel musikantische Spiellust – vor allem, aber keineswegs, nur in den jubelnden Auszierungen der Fanfaren.
Es geht nicht um Palestrina allein
Es geht auf dieser CD aber nicht nur um Palestrina allein, vielmehr wird das ganze Ausmaß seines Einflusses auch auf andere wichtige europäische Komponisten dieser Zeitepoche hörbar. William Byrd, der große Meister der englischen Renaissance, bezog sich explizit auf den Palestrina-Stil und verschmolz dessen römische Klarheit mit der charakteristischen Melancholie der britischen Kirchenmusik. Pierre de Manchicourt, Vertreter der frankoflämischen Schule, erscheint hier als Wegbereiter jener polyphonen Raffinesse, die Palestrina zur Vollendung führen sollte. Orlando di Lasso, weitere Lichtgestalt der italienischen Renaissance, demonstriert die stilistische Bandbreite seiner Epoche, während Tomás Luis de Victoria die römische Schule mit dem glühenden Mystizismus der spanischen Kirchenmusik zu einer einzigartigen Synthese verband.

Dank solcher thematischer Erweiterungen erklingt also ein faszinierendes Panorama der europäischen Vokalpolyphonie um 1500, das von den Niederlanden über England und Spanien bis nach Rom reicht und zeigt, wie sich in dieser Epoche eine wahrhaft internationale Musiksprache herausbildete.
Historische Stimmung auf 490 Hz
Die produktionstechnische Präzision dieser Aufnahme für das Label ARS-Produktion schafft dabei jenen Raum konzentrierter Stille, damit „Palestrina 500″ seine ganze Aussagekraft entfaltet. Bemerkenswert darüber hinaus: Als Tonhöhe für die Stimmung wurde der im 16. Jahrhundert übliche Chorton von 490 Hz ausgewählt, was auch einen Einfluss auf den individuellen Klangcharakter dieser Produktion haben dürfte. Fazit: Authentische historische Aufführungspraxis und künstlerische Lebendigkeit stellen keine Gegensätze dar. Und wenn die Augsburger Domsingknaben und das Ensemble I Fedeli die Vollendung der geistlichen Vokalmusik demonstrieren, wird ein ganzes europäisches Kulturerbe neu zum Leben erweckt.


