Die Musik jüdischer Komponist*innen zu spielen und vorzustellen ist für viele Orchester eine attraktive Aufgabe. So können sie wichtige Beiträge dazu leisten Geschichte vielfältig aufzuarbeiten, und persönliche Schicksale nicht zu vergessen. Zusätzlich zu diesem überaus wichtigen Auftrag geht es aber auch hier oft um Musik, die nicht an erster Stelle unserer Konzertprogramme steht, und sogar in Vergessenheit geraten könnte. Für mich persönlich ergibt sich daraus immer wieder dieser beeindruckende Moment, wenn ich mit Musik in Kontakt komme, die mich gänzlich einnimmt, wegen ihrer Ausdruckskraft, ihrer Originalität und manchmal auch wegen ihrer Schönheit. Solche Schätze zu finden ist ganz besonderes Salz in meiner Reviewalltagssuppe.
Eine perfekte Vorlage
Die bayerische kammerphilharmonie hat mir mit ihrer neuen CD wieder solch ein Erlebnis beschert. Die perfekte Vorlage dazu bekam das Augsburger Orchester vom jüdischen Komponisten Paul Ben-Haim, der vor seiner Emigration nach Palästina nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 noch unter dem Namen Paul Frankenburger 1. Kapellmeister in Augsburg war. Seinem Schaffen als in seiner neuen Heimat hoch angesehenem Komponisten eine Erinnerung zu setzen war das Ziel des Orchesters, und so wurden zusammen mit seinem Konzertmeister und Leiter Gabriel Adorjan vier Werke für Streichorchester von Paul Ben-Haim aufgenommen. Die Entstehungszeit der ausgewählten Stücke umspannt einen Zeitraum von 15 Jahren, von 1947 bis 1962, in denen der Komponist verschiedene Einflüsse verarbeitet hat. Die am Anfang und am Ende das Album einrahmenden „Concerto for Strings“ und „Music for Strings“ stellen gut Paul Ben-Haims Orientierung an westlicher Kunstmusik und Satzstruktur dar. Und die bayerische kammerphilharmonie lebt ihre Existenz als Streichorchester im Concerto in voller Breite. Die markanten musikalischen Themen präsentiert das Ensemble bestimmt und klar modelliert, dabei die besondere Harmoniewelt des Komponisten bewusst auslebend. Mit Finesse und Kraft in den Linienabschlüssen gestalten die Violinen die Einzelthemen und Akzente, und schwellen die Crescendi sehr synchron über die Instrumentengruppen hinweg.
Das Intermezzo Lirico pinseln die Musiker*innen mit breit ausgreifender Elegie in den Raum, akzentuiert von einigen cineastischen Ausschweifungen. Besonders passend erscheint dabei die Steuerung der Tempi, die genug Platz für Zwischenräume und Abschnitte schafft.
Paul Ben-Haim schön präsentiert
Die Musiker*innen der bayerischen kammerphilharmonie ruhen regelrecht in Paul Ben-Haims Werken, und besonders schön präsentieren sie das in der Pastorale Variee for Clarinet, Harp and String Orchestra. Zusammen mit der Augsburger Klarinettistin Bettina Aust gestaltet das Orchester das ursprünglich aus dem Klarinettenquintett des Komponisten entstandene Stück sehr spannungsvoll und mit viel Erzählfreude. Aust verblüfft dabei mit hervorragender Tonkontrolle, und meistert die verschiedenen Aspekte dieser Spielsituation. Sie phrasiert und intoniert ihre Solorolle mit viel Werkverstand, und interagiert dabei mit dem Ensemble in sehr maßvollem Einfühlungsvermögen, schafft übergeordnete Intensitätsbalance, bleibt dabei immer im Raum präsent. Es ist erstaunlich, wie sie die langen, leisen Töne so stellt, dass sie immer noch ortbar bleiben. Das wäre natürlich nicht möglich, ohne die hohe Qualität der Aufnahmetechnik, und auch das Zusammenspiel mit einem reinen Streichorchester hilft dabei. Aber ohne starken Grundcharakter und eine gefestigte, musikalische Persönlichkeit stehen solche Gestaltungsräume nicht offen. Mit der Leichtfüßigkeit ihres Ansatzes und damit ihres gesamten Spiels schafft es Bettina Aust die vielen hellen und fröhlichen Themen in der Variation IV bezaubernd und fast anmutig darzubieten, wobei das Orchester perfekt die Partnerrolle einnimmt. Eifrig legen die Musiker*innen die musikalische Grundplatte und schaffen damit einen großen Bereich, in dem die Klarinettistin wirken kann.
Ein Grundthema bei der Umsetzung von Paul Ben-Haims Musik für dieses Album bleibt immer die Öffnung von spielerischen Möglichkeiten. Auch im letzten Werk Music for Strings gibt sich die bayerische kammerphilharmonie vor allem in Serenade und Aria viel Raum und Weite, und erzeugen bei mir damit einmal mehr filmische Bilder während des hörens.
Mit einem sehr interessanten Albumkonzept und beherzter Ausführung bietet die bayerische kammerphilharmonie mit Bettina Aust als Solistin ein sehr abwechslungsreiches Hörvergnügen.