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Einfach Klassik.

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CD-Review: „Perspectives“ von Anaëlle Tourret

Musik schafft das für mich mit am besten. Das Gefühl zu erzeugen, ich würde mich in einer besonderen Zeit befinden, wenn neue Alben hervorstechen und Ausrufezeichen setzen. Zugegeben, es gibt auch manchmal Phasen, in denen Neues ausbleibt, und Uniformität sich breitmacht. Umso schöner ist es dann, wenn mich der nächste Aufbruch mitreissen kann. Und besonders tröstlich ist derzeit die steigende Zahl an jungen Künstler*innen, die mit wirklich originären Albumkonzepten in den Klassikmarkt drängen. Was für schöne Gegenentwürfe zu den x-ten Einspielungen eherner Klassik-Monumente das sind. 

Die junge Harfenistin Anaëlle Tourret ist eine dieser Musiker*innen, denn gerade hat sie mit Perspectives ihre Solo-Debüt-CD veröffentlicht. Die ehrgeizige Französin hat früh wichtige Wettbewerbe gewonnen, während ihre Studien sie nach Deutschland führten. Dort lehrt sie mittlerweile neben ihrem früheren Dozenten Xavier de Maistre an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Dem nicht genug, hat sie es überdies auch noch geschafft, sich im Jahr 2015 die Stelle der Solo-Harfenistin im NDR Elbphilharmonieorchester zu erspielen. 

Cover

Da kommt ihr Aufnahmedebüt als logischer Karriereschritt. Möchte man meinen. Wenn es hier jedoch nur darum ginge, eine Liste abzuarbeiten, dann würde ich sicher nicht diesen Text über “Perspectives” verfassen. Anaëlle Tourret lebt für ihr Instrument, und sie möchte damit weder in einem elitären Kreis Kulturschaffender bleiben, noch begnügt sie sich damit, das angestaubte Image der versonnen sphärischen Harfenklänge auszufüllen. Nein, Tourret hat viel mehr vor. Sie will ihre Begabung nutzen, um uns allen weitere und weite Spektren und Dimensionen ihres Instrumentes zugänglich zu machen. Die Taktik dafür ist zum Glück nicht besonders kompliziert, haben doch einige Komponisten der Neuen Musik die Harfe in neue Klang- und Erlebnisräume geführt. Und so besticht “Perspectives” durch seine geniale Werkauswahl, die mit André Caplet, Paul Hindemith, Benjamin Britten und Heinz Holliger zwar rein männlich, aber durchaus interessant besetzt ist.

Klangfarben und Spieltechniken

Dass es sich für Anaëlle Touret hier keineswegs um ein Experiment, sondern um für sie zentral wichtige Werke handelt, wird von Beginn an, und im gesamten Verlauf der CD in ihrer Herangehensweise deutlich. Die Präsentation neuer Klangfarben und Spieltechniken stellt sie dabei in den Mittelpunkt ihres Spiels. In Caplets Divertissements betont die Harfenistin Gegensätze und Vielschichtigkeiten, stellt die Gesamtheit von melodiösen Unterstimmen und hohen Kurzostinati fast schon orchestral in den Klangraum. In “à l’espagnole” verblüfft der Kontrast aus filigranen Passagen in hohen Lagen, und den wie Zäsuren wirkenden Oktavmelodien.

Wirklich verzaubert hat mich aber die Sonate für Harfe von Paul Hindemith. Diesem im Harfenkanon tatsächlich häufiger gespielten Werk, wird von Anaëlle Tourret so viel Räumlichkeit und Plastizität  eingehaucht, dass man sich förmlich in der wunderbaren Komposition umherbewegen kann, selbst wenn “Perspectives” nicht in Dolby Atmos-Qualität vorliegt. Weitaus beeindruckender als technische Finesse ist die Expressivität, mit der die Harfenistin die musikalischen Bilder Hindemiths entstehen lässt. Mit Ruhe und tiefem Atem legt sie sich förmlich in die langen Narrative und Spannungsbögen, und verbindet auch über Absätze und Zäsuren hinweg. In “II. Lebhaft” schafft sie diese perfekte Synergie, aus lieblichen Melodiekaskaden und überraschenden Harmonieverbindungen, die dadurch wirklich dem Erzählen einer Geschichte dienen können. Ich vergesse beim hören auf das Instrumentenspiel zu achten, verliere die Konzentration auf technische Details, höre durch die Person Anaëlle Tourret hindurch. Sie wird Musik, die Projektionsfläche für Hindemiths wunderbare Erzählungen, egal ob der Transporter dafür die brillanten, glasklaren Arpeggi im ersten Satz, oder die fast schon hinter einen Vorhang tretenden, verhaltenen Melodien aus dem dritten Satz sind. 

Anaëlle Tourret und Melodien

Immer feingliedriger agiert Anaëlle Tourret dann in der “Suite for Harp” von Benjamin Britten, wenn sie die vielen hohen, schnellen Themen leicht wie Cirruswolken durch meine Ohren schickt. Das stille, geheimnisvolle Nocturne aus dem dritten Satz macht die Harfenistin dann regelrecht zu einer Szene aus einem James Bond-Film, wenn Roger Moore (ja, Roger Moore!) Nachts durch das opulente Anwesen des Bösewichts schleicht. Aber neben all dieser Szenerie vergisst Tourret dennoch nicht ihre Liebe für starke Melodien, die sie dann im vierten Satz wieder auslebt und auskostet, und die sie in der Laustätkeeinordnung neben den vielen Arpeggi so zielsicher zu setzen weiß. 

Anaëlle Tourret, © Harald Hoffmann
Anaëlle Tourret, © Harald Hoffmann

Und bei dieser ja schon sehr modernen Werkzusammenstellung bleibt die Harfenistin aber nicht stehen. Mit „Präludium, Arioso und Passacaglia“ von Heinz Holliger hat sie dann noch ein Werk inkludiert, das ihr besonders am Herzen liegt, wegen seiner vielen verschiedenen Gefühlsbilder und Farben. Mit dem Komponisten konnte sie für die Aufnahme persönlich zusammenarbeiten, und erreicht damit eine Ausführung, die geprägt ist von großer Lust zur Gestaltung, und der Verwendung vieler neuer Techniken. Leise fragende Melodien stellt sie offen geschlagenen Saiten gegenüber, und lässt die Stille in Holligers Komposition wirken.

Anaëlle Tourret ist eine Künstlerin, die man so früh in ihrer Karriere gehört haben sollte. Sie hat wohl noch eine sehr beeindruckende Entwicklung vor sich, begeistert aber schon jetzt mit ihren ausgereiften, musikalischen Fähigkeiten, nicht zuletzt „Perspectives“ ist ein bemerkenswertes Dokument dafür.

Titelfoto © Harald Hoffmann

Die Tracks

Icon Autor lg
Stefan Pillhofer ist gelernter Toningenieur und hat viel Zeit seines Lebens in Tonstudios verbracht. Er hat viel Hörerfahrung mit klassischer und Neuer Musik gesammelt und liebt es genau hinzuhören. In den letzten Jahren hat sich die Neue und zeitgenössische Musik zu einem seiner Schwerpunkte entwickelt und er ist stets auf der Suche nach neuen Komponist*innen und Werken. Stefan betreibt das Online-Magazin Orchestergraben, in dem er in gemischten Themen über klassische Musik schreibt. Darüberhinaus ist er auch als Konzertrezensent für Bachtrack tätig.
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