Das Quatuor Tchalik hat uns hier im Orchestergraben bereits sehr erfreuen können. Da tritt die neue CD „Ravel-Lyatoshynsky“ in große Fußstapfen. Mein Suchmaschinen-Bot spuckt erwartbare Lobeshymnen über die vier Geschwister dieses Streichquartetts aus, und tatsächlich ist es ja nicht unbedingt sehr wahrscheinlich, dass aus dieser Konstellation ein Ensemble von Weltklasseniveau entsteht. Wir haben also bereits alle erraten, dass das Quatuor Tchalik einer sehr musikalischen Familie entspringt.
Mit Maurice Ravel und Boris Lyatoshynsky werden auf dem Album zwei Komponisten gegenübergestellt. Eine gern gewählte Taktik für Albumkonzepte, und, ja, ich schreibe diese Zeilen am Abend des EM-Eröffnungsspiels. Häufige Vorkommnisse haben ihren Grund, denn solch ein Vergleich funktioniert einfach sehr gut. Auch das Quatuor Tchalik arbeitet mit Gegensätzen und Gemeinsamkeiten, mit den unterschiedlichen Lebenswelten der beiden Komponisten und den Parallelen in der Komposition. Boris Lyatoshynsky war ein ukrainischer Komponist, der die moderne Musik des Landes entscheidend geprägt hat. Während er durch die Volksmusik seines Heimatlandes inspiriert war, aber vom sowjetischen Regime unterdrückt und teilweise verboten wurde, konnte Ravel frei im westlichen Europa arbeiten und war sehr von spanischer Musik und dem Jazz beeinflusst. Um die Gemeinsamkeiten beider aber wirklich zu erfassen, muss man sich die CD selbst anhören.
Ravels Streichquartett in F-Dur, M. 35, liegt den Musiker*innen des Quatuor Tchalik sehr gut auf den Instrumenten. Hier können sie besonders gut ihre Stärken und musikalischen Persönlichkeiten ausspielen. Was mir bei diesem Ensemble immer wieder auffällt, ist das domestische Spiel, das sie sehr gerne kultivieren. Sie kreieren recht kleine musikalische Ereignisräume, legen sich interpretatorisch gerne in langflorige Wohnzimmergemütlichkeit und betreiben Hausmusik. Ravels elegische Akkordwanderungen ziehen die vier nicht in Größe und erweiterte Räumlichkeit, sondern bleiben klein, wo immer es geht. Zwar wächst der Vortrag wohl zwangsweise an lauteren Stellen, aber gerade im späteren Verlauf des „Allegro moderato. Très doux“ ist diese wohlige Beschaulichkeit sehr offenbar, gerade wenn die Violine seidige Melodien wirklich fragil verklingen lässt.
Quatuor Tchalik – Den Spielprinzipien treu
Schnellere Bewegungen, zum Beispiel im „Assez vif. Très rythmé“, gelingen sehr cineastisch, bleiben aber dennoch immer nahbar und unmittelbar. Dabei agieren sie mit viel Spiel- und Bewegungsfreude und verbreiten Witz und Fröhlichkeit. Richtig eindrucksvoll ist die gedrückte Mittagshitzenstimmung im „Très lent“, wo Violinen und Viola eine chorhafte Einheit bilden und sich dann sogar bis zu einem fast biederen Interpretationsbild hinarbeiten.
Das Quatuor Tchalik bleibt auch in den anderen beiden Werken des Albums diesen Spielprinzipien treu. Dadurch schaffen sie eine gute Verbindung zwischen den Werken und weisen die Gemeinsamkeiten in der Harmonik und Themenführung beider Komponisten aus. Die in den Quartetten Lyatoshynskys enthaltenen kleinen Raffinessen führen die vier Musiker*innen nicht nur aus, sie genießen sie förmlich mit viel Freude. Da werden schnelle Strichrepetitionen mit Kleinst-Verve eingeworfen, da werden Akkordabschläge zur häuslichen Protestaktion, bevor dann wieder wehmütige Melodien mit etwas zu breiten Strichen aufs Sofa fallen. Die anfänglichen Zweiklangmelodien am Beginn des „Intermezzo. Molto lento“ im String Quartet No. 2, die dann mit der Zeit geschickt über Melodien erweitert werden, kommen bedächtig schreitend auf mich zu, bis sich die Melodien dann loslösen und die Vier ganz frei von der Konzentration auf Spieltechniken nur noch die Musik atmen und formen. So findet das Quatuor Tchalik dann zum Ende dieses Werks wieder in romantisch angelehnte Melodiethemen, die mit viel Dynamikgestaltung ausgeführt werden.
Das letzte Werk, String Quartet No. 3, wirkt dann moderner und ambivalenter in seinen Themen und Stimmungen. Wieder eine Einladung für das Quatuor Tchalik, die Konzentration der Hörerinnen auf diesen kleinen Raum zwischen den Instrumenten zu lenken, wo die Musik letztlich zusammenkommt und stattfindet. Mit versonnener Tonformung, gerade in den Ausklangphasen, verdeutlichen die Musikerinnen Widersprüche und Kleinkonflikte, die beim Komponisten letztlich aus weitaus Größerem resultiert haben müssen. Und ganz zum Schluss, im „Postlude. Allegro impetuoso“, nehmen sich die Vier dann doch ein wenig mehr Größe heraus, erzeugen streicherische Breite und spielen in den kräftigen Unisonopassagen vielstrichig hin zum Abschluss des Albums.
Kurzweilig
Das Quatuor Tchalik nimmt uns mit seiner beeindruckenden Musikalität und Interpretationssicherheit an die Hand, geleitet uns durch die Klangwelten der beiden Lyatoshynsky-Quartette und führt damit auf die beste Weise in die Musik dieses Komponisten ein. Zusammen mit der Ravel-Gegenüberstellung ist hier ein kurzweiliges und impulsgebendes Album entstanden, das uns über den Sommer begleiten sollte.
Das Album