Im schulischen Musikunterricht lernen wir über Mozart, Beethoven, Bach und Brahms. Das ist gut und richtig. Von Maria Theresia Paradis hatte ich jedoch noch nie etwas gehört – so gar nichts. Dabei ist ihre Geschichte so außergewöhnlich, ihre Karriere so beeindruckend, dass sowohl Mozart als auch Haydn ihr Klavierkonzerte nicht nur gewidmet, sondern auf den musikalischen Leib geschneidert haben. Denn Paradis war eine sehr besondere Frau – in vieler Hinsicht. Ihr musikalisches Talent war so außergewöhnlich, dass sie früh von den besten Lehrern gefördert und unterrichtet wurde, darunter Antonio Salieri und Vincenzo Righini. Abgesehen von der aus ihrer Begabung folgenden, viel beachteten Konzerttätigkeit erschuf sie als Komponistin zahlreiche Werke, von denen leider viele nicht mehr erhalten sind. Auch als Lehrerin und Musikpädagogin betätigte sich Maria Theresia Paradis, denn es gab da noch eine entscheidende Besonderheit in ihrem Leben: Paradis war von Kindheit an blind und musste sich so in der Welt zurechtfinden. Diese Fähigkeiten setzte sie in ihrer Lehrtätigkeit um; sie stand aber auch vor großen Herausforderungen, zum Beispiel beim Komponieren und beim Schreiben von Schrift. Da sie sich diesen Herausforderungen aber immer stellte, konnte sie auf erstaunliche Weise mithelfen bei Weiterentwicklungen in Techniken, die blinde Menschen im Alltag unterstützen.
Eine weitere Beschreibung dieser höchst faszinierenden Geschichte sprengt leider einen Artikel, der die Überschrift „CD-Review“ trägt. Daher möchte ich dringend empfehlen, im Booklet der CD den Text der Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka zu lesen oder sich anderweitig über das Leben von Maria Theresia Paradis zu informieren. Und generell möchte ich hier nochmal auf die spannende Arbeit von Susanne Wosnitzka zum Thema Komponistinnen hinweisen.
Das Hauptthema
Was ist denn nun mit dieser CD? Die gab es ja auch noch. Die renommierte Pianistin Ragna Schirmer präsentiert mit ihrem neuen Album nicht nur Aufnahmen von Haydn- und Mozart-Klavierkonzerten, sie thematisiert hauptsächlich Maria Theresia Paradis, deren Solowerke „Ouvertüre zu ‚Der Schulkandidat‘“ und „Fantasie in G-Dur für Klavier“ eigentlich den Rahmen des Albums bilden. Die beiden Konzerte haben Bezug zu Paradis, da Haydn ein Freund der Familie war und das Klavierkonzert G-Dur Nr. 4 Hob. XVIII:4 mutmaßlich von Paradis uraufgeführt wurde. Und Mozarts Klavierkonzert B-Dur KV 456 hat er eigens für Paradis geschrieben und ihr während ihrer Tourneereise nach Paris hinterhergeschickt (belegt in einem Brief Mozarts an seinen Vater).
So, jetzt wäre das schon ein richtig tolles Konzept für ein Klassik-Album – was für ein Schatz, den wir mit Maria Theresia Paradis’ Leben kennenlernen dürfen. Aber Ragna Schirmer macht hier nicht halt. Ein weiterer Einfluss, den Paradis auf ihre Zeit nahm, war der im Klavierbau. So besuchte sie auf ihrer Konzertreise den Clavierbauer Johann Andreas Stein, der ein Klavier für sie angefertigt hatte. Ragna Schirmer schreibt im Booklet der CD sinngemäß, dass sie sich möglichst gut in die Welt von Maria Theresia Paradis hineinversetzen wollte; daher spielte sie das Album auf historischen Instrumenten ein, die entweder in der Sammlung des Greifenberger Instituts für Musikinstrumentenkunde sind oder in der Werkstatt des Instituts rekonstruiert wurden. Für die Konzerte ist dies ein Wiener Hammerflügel nach Anton Walter. Und zu einem Klavierkonzert gehört natürlich ein Orchester. Hier ist das die Hofkapelle München – absolute Experten für die historische Aufführungspraxis. Die Musiker*innen spielen auf historischen Instrumenten oder Nachbauten davon. Und dieser Klang ist eine große Freude: Er besticht durch große Weichheit, festliche Dynamiken und reiche Klangfarben. Die Hofkapelle weiß wirklich mit den Pfunden ihrer Instrumentengruppen zu wuchern und sie in ihren Charakteristika wirkungsvoll einzusetzen. Durch die konsequente historische Instrumentierung ist es dem Orchester ein Leichtes, Ragna Schirmer am Hammerflügel genug Raum für ihre führende Rolle zu geben, um dann aber auch in den Vordergrund zu treten, wobei gerade die Bläser mit ihren Formantstrukturen glänzen. Und immer begeistert mich dabei der runde Gesamtklang des Orchesters.

Ragna Schirmer hat dabei natürlich nochmal eine ganz eigene Rolle im Gesamtverbund. Sie spielt sehr pianistisch die Melodielinien aus und gibt dann aber auch wieder dem speziellen Charakter dieses besonderen Instruments Geltung – gerade wenn sie die Agogik fein auf die baulichen Besonderheiten des Hammerflügels abstimmt, wenn sie in die Höhepunkte von Melodielinien minimales Zögern einbaut. Und hier zeigt sich die immense Erfahrung der Pianistin, denn alle diese Bestandteile zu harmonisieren – ihr Instrument, die besonderen Werke und das hochspezialisierte Orchester und ihr Zusammenspiel mit ihm – das so zu spielen wie auf dieser Aufnahme, ist nicht weniger als enorm.
Ragna Schirmer jovial
Im Mozart-Konzert spielt Schirmer jovial und mühelos mit dem Orchester – mal Hand in Hand, mal komplementär. Geht in leiseren Passagen weit zurück und lässt das Orchester wirken.
Und im Haydn-Konzert kommt dann noch ein weiteres Element des Albums hinzu: Schirmer hat die Kadenzen von Timo Jouko Herrmann im Stile von Paradis nachkomponieren lassen. Das ist Konsequenz, die Schönheit erzeugt.

Nun waren wir noch nicht mal bei meinem Höhepunkt des Albums. Man möchte meinen, das seien die beiden Konzerte. Aber als ich die „Fantasie in G-Dur für Klavier“ von Maria Theresia Paradis in der Ausführung von Ragna Schirmer gehört habe, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Wahl des Klaviers, die Komposition und die Ausführung sind wirklich atemberaubend. Ragna Schirmer spielt die Fantasie auf dem Hammerflügel von Joseph Böhm – dem einzig erhaltenen Instrument dieser Art, das ein eingebautes Orgelregister und sogar einen Janitscharenzug, eine Vorrichtung, die Schlaginstrumente spielt, besitzt. Bitte hören Sie sich dieses Stück an und bedenken Sie dabei immer, dass hier nur ein einziger Hammerflügel gespielt wird. Ragna Schirmer spielt hier neben dem komplexen Klavierwerk auch den Blasebalg für das Orgelregister und im Finale dann mit vollem Einsatz den Janitscharenzug – zu meiner größten Erbauung und Freude! Das müssen Sie gehört haben!
Für die meisten CDs, die ich hier beschreibe, spreche ich eine Hörempfehlung aus. Im Fall von „Maria Theresia Paradis“ von Ragna Schirmer muss ich alle dringend bitten und ersuchen, das Album zu hören und das Booklet vollständig zu lesen. Noch nie habe ich durch eine einzige CD so viel gelernt und dabei dennoch so viel Hörgenuss erfahren. Bravo! Bravo an ALLE Beteiligten!
Titelfoto © Maike Helbig
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