Einfach Klassik.

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CD-Review: Violina Petrychenko – Ukrainian Piano Concertos

Die ukrainische Pianistin Violina Petrychenko hat einen Auftrag: Sie kultiviert und verbreitet das musikalische Erbe ihres Landes. Mit hervorragender internationaler Ausbildung an ihrem Instrument und großer Erfahrung als Solistin hat sie alle Voraussetzungen, um sich ein solch großes und wichtiges Vorhaben zu nehmen.

Mit zahlreichen Einspielungen ist Violina Petrychenko hier schon gut auf dem Weg; mit dem vorliegenden Album „Ukrainian Piano Concertos“ geht sie nun in eine größere Projektkategorie – die Symphonik. Möchte man meinen, wenn man das Plattencover sieht. Wie konsequent diese Großskalierung angelegt ist, dazu muss man das Album eingehend anhören und auch die Zusammenhänge der an der Aufnahme Beteiligten verstehen. Ganz abgesehen von der aktuellen politischen Situation des Landes Ukraine.

Violina Petrychenko mit Symphonik

Das Akademische Sinfonieorchester der Nationalphilharmonie Lwiw ist eines der größten Orchester des Landes, das von seinem Dirigenten Volodymyr Syvokhip auf dieser Aufnahme geleitet wird, und Violina Petrychenko ist residierende Klaviersolistin des Lemberger Klangkörpers.

Hier arbeiten also Beteiligte, die sich kennen und verstehen. Aber was wird gespielt? Die beiden Klavierkonzerte haben interessanterweise eine Gemeinsamkeit: Beide Werke mussten zunächst erst vor einigen Jahren rekonstruiert werden, um vollständig vorzuliegen und spielbar zu sein. Folglich ist „Ukrainian Piano Concertos“ auch die erste Einspielung der Konzerte.

Violina Petrychenko, Foto © Oliver Motz
Violina Petrychenko, Foto © Oliver Motz

Vasyl Barvinskys einsätziges Klavierkonzert in e-Moll (1917–1937) wurde tatsächlich im stalinistischen Terror verbrannt – ein kaum vorstellbarer und barbarischer Akt, nicht nur gegen die Kultur. Einzig der Klaviersatz überlebte, und es ist ganz erstaunlich, diese Musik jetzt in voller Besetzung und Länge hören zu können. Beide Komponisten auf diesem Album hatten sich der Kultur ihres Landes und der Unterstützung des jahrhundertelangen Befreiungskampfes verschrieben. Und so klingt die Musik tatsächlich auch: kämpferisch, heroisch, aber auch die Landeskultur in leuchtenden Farben zeichnend. Orchester sowie Solistin nehmen hier kein Blatt vor den Mund, sondern handeln mit Konsequenz. Sie spielen Dynamiken voll aus, gehen mutig und kämpferisch in Crescendi, setzen kraftvolle, beeindruckende Orchester- und Tutti-Abschläge. Aber auch die vielen leiseren Zwischentöne und Passagen gestalten Orchester und Solistin mit großer Herzlichkeit, mit großem Respekt gegenüber Kultur und Tradition. Und auch mit einem gewissen Sendungsbewusstsein. Wenn Violina Petrychenko großgriffige Akkordcluster nicht nur mit technischer Finesse, sondern auch mit Lust und viel Leidenschaft setzt, wenn die Streicher wehmütige, landschaftsbildnerische Melodien in den Klangraum legen, dann ist blitzschnell klar, dass sie das nicht für sich tun, nicht für ihre Karrieren. Hier geht es um mehr, um Gesellschaft und Freiheit, und so spielen die Beteiligten auch, als ginge es um alles. Was es ja auch tut.

Bilder entstehen

Die verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters intonieren in Spieltechniken, Tongestaltung und Phrasierungen immer perfekt auf den Punkt, um die richtigen musikalischen Bilder entstehen zu lassen. Dadurch wird dieses Klavierkonzert so erzählend und mitreißend, wie ich es nicht erwartet hätte.

Und das setzt sich auch im Klavierkonzert in c-Moll, Op. 23, von Viktor Kosenko fort. Nur mit dem Unterschied, dass hier noch weitere kompositorische Finessen und Kniffe präsentiert und transportiert werden. Auch dieses Werk musste rekonstruiert werden, da der Komponist aufgrund seiner schweren Krankheit nicht mehr in der Lage war, die letzten beiden Sätze zu komplettieren.

Orchester und Solistin führen hier den im ersten Konzert begonnenen Vortrag fort, bekommen aber dann im zweiten Satz „Andante con moto“ ausgefeiltere und hintergründige Harmoniken und Strukturen zu spielen, was dann im dritten Satz „Allegro moderato“ noch intensiviert wird. Violina Petrychenko geht hier in ihrer Berufung als Pianistin voll auf, phrasiert und intoniert die Klaviatur auf und ab und lässt Arpeggio- und Solokaskaden locker, aber mit Leidenschaft perlen. Das Akademische Sinfonieorchester der Nationalphilharmonie Lwiw spielt währenddessen mit Nachdruck und komprimierter Energie die vielen offenen Akkordverschiebungen und offenbart hier endgültig eine Eigenschaft, die ich im ersten Konzert eher noch erahnt, aber noch nicht so ernst genommen habe. Dieses Orchester spielt mit Leidenschaft gerne in cineastischem Klang. Gerade die Streicher haben eine Klangstruktur, die mit beschlagenen Filmorchestern mithält, was für mich eine ganz eigene, beachtenswerte Eigenschaft ist. Aber auch die Bläser zeigen die Fähigkeit zur Fanfare, nur um dann wieder in operettenhafte Leichtigkeit zu verfallen. Dies alles zusammen mit Kosenkos Harmonik erzeugt für mich einen Vortrag, der mich mitreißt und der meiner großen Wut über die aktuellen Ereignisse in der Weltpolitik Ausdruck verleiht.

Violina Petrychenko und das Orchester bringen uns hier ein brennendes Fanal dafür, dass nur die Ukrainerinnen und Ukrainer entscheiden dürfen, wie es mit ihrem Land weitergeht, und niemand von außen, der eigene Interessen verfolgt. Und dass wir alle ihnen dabei zur Seite stehen müssen!

Das Album

Icon Autor lg
Stefan Pillhofer ist gelernter Toningenieur und hat viel Zeit seines Lebens in Tonstudios verbracht. Er hat viel Hörerfahrung mit klassischer und Neuer Musik gesammelt und liebt es genau hinzuhören. In den letzten Jahren hat sich die Neue und zeitgenössische Musik zu einem seiner Schwerpunkte entwickelt und er ist stets auf der Suche nach neuen Komponist*innen und Werken. Stefan betreibt das Online-Magazin Orchestergraben, in dem er in gemischten Themen über klassische Musik schreibt. Darüberhinaus ist er auch als Konzertrezensent für Bachtrack tätig.
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