Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Wer ihn kennt, der weiß es: Meistergeiger Daniel Hope ist für besonders innovative Programmkonzepte immer gut. Überraschendes inbegriffen, was sich nicht selten in unorthodoxen Angeboten äußert. Erst kürzlich war er solcherart höchst ambitioniert wieder mehrfach in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs, unter anderem am 25. und 26. Juli in Neubrandenburg beziehungsweise Greifswald. Natürlich im Rahmen der Festspiele MV und nicht allein, sondern diesmal mit dem Zürcher Kammerorchester, dem er seit Jahren als „Chef“ vorsteht und damit zugleich den Garanten für zwei tolle und sehr unterschiedliche Konzerte lieferte.
Hope liebt stilistische Gratwanderungen. Gern reizt er traditionelle Angebotsformen bis an deren Grenzen aus, tummelt sich mit seiner ausgeprägten Kommunikationsfähigkeit und -freudigkeit aber ebenso gern in Bereichen des Populären. Der Erfolg gibt ihm hier wie dort recht, zumal er alle diesbezüglichen Angebote ohne Abstriche an künstlerischer Qualität präsentiert. Was selbst für´s Populäre durchaus Aha-Erlebnisse möglich macht. Denn was schon wäre zum Beispiel gegen beliebte und möglicherweise in durchaus neuem Lichte erscheinende „Ohrwürmer“ vorzubringen?
In Neubrandenburgs rappelvoller Konzertkirche hätte es Raum für solche oder auch gegenteilige Überlegungen gegeben: Achtzehn (jede Erfolgsgarantie liefernde) „Dauerbrenner“ von ebenso vielen Komponisten aus sieben Jahrhunderten und von weltweiter Provenienz. Aber eben auch das Konzept, sie mit einer seriösen thematischen Klammer aus populistischer Beliebigkeit herauszuholen. Die Klammer lautete: Beispiele für die rhythmische Bewegtheit des Tänzerischen und dessen Wirkung auf den Menschen.
Hope zeigt sich vor allem von Letzterem fasziniert und bündelte in seinem Programm so Charakteristisches wie Unterschiedliches zwischen dem 14. Jahrhundert und der Gegenwart, zwischen Lamento di Tristano und den Tangos Piazollas, barocker Hofmusik und Bartok, Mozart und Offenbach, ohne dabei Negro-Dances, Cancan, Minimal-Music und vieles andere mehr auszulassen.
Miteinander vergleichbar ist das alles kaum, muss es allerdings auch nicht.. Aber als aus einem bestimmten Rahmen herausgelöste Einzelstücke können solche Nummern – wie angedeutet absolute Professionalität der Darbietung vorausgesetzt – dennoch ein musikalisches Eigenleben präsentieren; und das jenseits bloßen Unterhaltungs- oder Wiedererkennungswertes; unterstützt zum Beispiel von ausführlichen und sehr fundierten Programmheftartikeln und der so charmanten wie kenntnisreichen Moderation Daniel Hopes. Einige Beispiele gefällig? Etwa Glucks „Furientanz“ („Orpheus“), Händels „Wassermusik“ (Rigaudon), Deutsche (Schubert) und Rumänische Tänze (Bartok), Balletmusiken von Tschaikowski („Schwanensee“), Prokofjew („Romeo und Juila“) und Bizet (Farandole), den Salonhit „Odessa Bulgar“, eine rasante „Tarantella von Schulhoff oder Wojciech Kilars Hohe Tatra-Klänge fast orgiastisch verarbeitendes Klangbild „Orawa“.
Ein Hörspaß war das allemal, zumal sich Hope und sein Orchester keine Gelegenheit entgehen ließen, diese „berühmten“ Stücke in perfekter, hochmusikantischer und damit denkbar genussfähigster Weise zu präsentieren. Die Begeisterung im Saal war groß, die Fülle von Glücksmomenten für das Publikum offensichtlich erheblich. Man muss es allerdings mögen!
Eher konzertant im herkömmlichen Sinne ging es in Greifswald zu. Auch hier der Dom St. Nikolai rappelvoll und die Erwartungen hoch. Wie auch nicht, war doch neben garantierten romantischen Wohlfühlstücken Edward Elgars (Introduktion und Allegro für Streicher op. 47) und Peter Tschaikowskis (C-Dur-Streicherserenade op. 48) eine Uraufführung mit direktem Greifswald-Bezug avisiert: Christian Josts „Eismeer. Konzertante Dichtung in drei Sätzen nach dem Gemälde DAS EISMEER von Caspar David Friedrich für Saxophonquartett,Vibraphon und Streicher.“ Es ging also um den in Greifswald geborenen, im Dom getauften und wohl berühmtesten Maler der Romantik, nämlich C. D. Friedrich. Das Ganze firmierte als Auftragswerk der Festspiele MV und der Hanse- und Universitätsstadt Greifswald. Geradezu selbstverständlich, dass sich erstere mit dem diesjährigen Preisträger in Residence, dem SIGNUM saxophone quartet und Daniel Hope samt seinem Zürcher Kammerorchester einbrachten.
Für Spannung und Erwartungen war also gesorgt. Und sie wurden nicht enttäuscht! Josts Werk ist dreisätzig. In „Winterreise“, „1824“ und „Die gescheiterte Hoffnung“ spürt er Eindrücken nach, die Friedrichs tödliche Stille nach einer Katastrophe (Schiffbruch im Eis) aussendende Bild in ihm auslöste. Er spricht gar von einem „meditativen Zustand“, gar von der Gefahr, „darin zu versinken.“
Andererseits sei er dankbar, sich als Komponist solcher Romantik stellen zu dürfen. Dabei ging es ihm jenseits jedes Illustrativen um die Möglichkeit, Gesehenes – und nicht Gemaltes, etwa die Vorgeschichte des Unglücks! – zu einer musikalischen Erzählung zu verdichten. Insofern sind nicht nur Stille, Kälte und Endzeitstimmung zu gestalten, sondern auch Tragik sowie handfeste Dramatik, die Schroffheit und Wucht von Naturgewalten, deren zerstörerische Kraft – vielleicht auch deren bizarre Schönheit in Form Friedrichscher Eisschollengebirge.
Wie auch immer – „bildliche“ Details aufspüren zu wollen dürfte ziemlich resultatlos bleiben. Jost, mit unter anderem zehn Opern musikalisch-szenisch sehr erfahren, fängt den Hörer bereits mit den ersten Tönen und lässt ihn die gesamten etwa 25 Minunten nicht wieder los. Ihm eignet eine klanglich sehr dichte, reibungsintensive, dabei dynamisch ungemein variabel behandelte und deshalb deutlich „erzählerisch“ orientierte Musiksprache von wahrlich fesselnder Stringenz. Vielfach auf den ersten Höreindruck hin eher geräuschhaft, clusterhaft großflächig wirkend, erweist sich seine „Erzählweise“ als ebendiese Flächen von innen her permanent verlebendigend: metrisch, rhythmisch, motivisch und klanglich (spezieller Einsatz der Saxophone und des Vibraphons). Jost schaffte es, seiner ständigem Klangwandel unterworfenen „Sprache“ vielfach energisch pulsierende Unwiderstehlichkeit zu verleihen; man darf wohl auch von suggestiver Kraft sprechen! Da ist es auch kein Widerspruch, wenn man seiner Musik gewisse Bezüge zum Romantischen zuschreibt. Wer diesbezüglich ängstlich wäre, darf sich als getröstet betrachten: Jost beschreibt sich selbst als „Romantiker“! Was natürlich nicht stilistisch gemeint ist, sondern auf den Gefühlsmenschen, den Ausdrucksmusiker Jost zielt. Und der wirkt mit der dennoch ganz eigenen Stilistik eines heutigen, natürlich moderne (tonale, atonale) Entwicklungen einbeziehenden Zeitgenossen überaus glaubwürdig.
Kein Wunder also, dass ein aufmerksames Publikum am Ende alle Zurückhaltung fahren ließ und sich beim Komponisten – Jost dirigierte selbst – wie bei den leidenschaftlich agierenden Ausführenden mit tosendem Beifall und standing ovations bedankte; Zugabe (eine kleine Teilwiederholung) inbegriffen!
Übrigens passten sowohl Elgar als auch Tschaikowski durchaus in ein Gesamtkonzept, das mit dem Thema des Romantischen spielte. Unerschiedlich natürlich. Hier die etwas herbe, aber kaum unverbindliche spätromantisch-englische hier, die klangsatte, ungestüme oder auch melancholisch-liebliche russische dort. Beide Werke machten – kein Wunder bei solch fulminanten Interpretationen – mächtigen Eindruck. Bleibt zu wünschen, dass darüber Josts überaus komplexe und so hochexpressive wie eindringliche Klangsprache die ihr gebührende Nachhaltigkeit zu bewahren vermochte.
Titelfoto © Oliver Borchert