Ein frischer Wind durch den neuen Festivalleiter Patrick Hahn und ein verjüngtes Gesamtkonzept, sowie eine internationale Szene, die sich beständig erneuert und seismografisch auf gesellschaftliche Schwingungen reagiert – das zusammen sorgte bei den 56. Wittener Tagen für Neue Kammermusik für ein Rundumprogramm inclusive ästhetischer Bewusstseinserweiterung. Zugleich lebt das Erbe des langjährigen Vorgängers Harry Vogt in einem kompromisslosen Bekenntnis zur Qualität weiter. Von künstlerischem Selbstbewusstsein zeugt dabei auch der Mut zu aufwändigen Bühneninszenierungen und schrägen Happenings. Ein Fazit wurde dabei auf jeden Fall eingelöst: Festivals machen heißt Atmosphäre kreieren. Das gelang direkt am Eröffnungsabend mit einer schweißtreibenden Tanzperformance im Foyer: Unter der Regie von Sergej Maingart und Anna Konjetzky stellte die Inszenierung „Songs of Absence“ unter Mitwirkung des Tanzensembles Witten Resonance mit kraftvollen Choreografien, harten E-Gitarren und treibenden Drumbeats eines unmissverständlich klar: Musikalische Gegenwart ist nicht nur Kopfsache, sondern geht alle Körperregionen etwas an. Emanzipation und Aufbruch signalisierten auch die Trompeten des „Monochrom-Projekts“. Zwar spielte das achtköpfige Ensemble nur einen einzelnen Ton, auch aber der hatte um so mehr zu sagen, wie er im weiten Foyer des Saalbaus aus jeder Domestizierung durch Konventionen oder auch zu enge Konzertbühnen hinauswuchs.
Ein klarer Blick in ferne Galaxien
Im Theatersaal geht es dann ohne Umschweife ans Eingemachte. Eine Traditionsveranstaltung der Neuen Musik macht „dem“ Traditionsensemble schlechthin ein besonderes Geburtstagsgeschenk: Bereits seit 50 Jahren besteht das Arditti String Quartett. Seit immerhin 46 Jahren veredelt es jedes Jahr aufs Neue das Wittener Konzertgeschehen und hat wohl noch nie vor irgend einem noch so „unspielbaren“ Klangabenteuer kapituliert. Einst hat es in Witten die Streichquartette von Györgi Ligeti uraufgeführt. Im Geiste der 1990er Jahre hatte Karlheinz Stockhausen sein „Helikopter-Streichquartett“ verfasst und natürlich lag die Uraufführung wieder in den Händen der beherzten Arditti-Spieler. Jeder einzelne wurde in einen Helikopter gesetzt und das gemeinsame Spiel durch eine Art Bodenstation synchronisiert. Die Diskussionen – keineswegs nur in Fachkreisen – liefen heiß.
In Anspielung darauf schuf der Komponist Hans Seidl nun sein aktuelles Werk „Unfinished Circles“. Jetzt sind die vier Streicher nicht mehr in Hubschraubern unterwegs, sondern fahren im Wittener Saalbau Karussell. Jeder sitzt in einer altmodischen Museumsvitrine. Damit es trotzdem toll klingt, ist viel Technik im Spiel. Ist das Streichquartett reif fürs Museum? Ein ganz klares Nein mit dickem Ausrufezeichen schleudert das Arditti-Quartett dieser Frage auf musikalischem Wege entgegen. Hans Seidl erweist sich in seiner Komposition als extrem guter Kenner der hier möglichen Potenziale. Irvine Arditti (Violine), Ashot Sarkissjan (Violine), Ralf Ehlers (Viola) und Lucas Fels (Violoncello) stürzen sich hellwach, oft brachial und hitzig auf alle Herausforderungen, mit denen auch diese neue Partitur die Grenzen des Spielbaren einzureißen versucht. Das Können dieser Musiker steht aber unbeirrt über so etwas drüber. Man konnte nicht anders, als zunehmend in einen Hypnosezustand zu fallen beim Drehen dieses Riesenkarussells auf der Bühne, dem auch die unvollendeten musikalischen Kreise wirkungsvoll entsprachen – unterwegs auf Umlaufbahnen voller eigenwillig verzahnter Strukturen, unter Spannung gesetzt durch ruhelos vibrierende Tremolo-Flächen, aber auch gehalten von einer repetitiven Logik in Hans Seidls Komposition. All das wirkte wie ein sich öffnender Blick in ferne Galaxien, aus denen es aber in jeder noch so rätselhaften Konstellation immer sehr präsent leuchtet.
Partitur für Feuerwaffen
Neue Klangforschung ist das eine in der Gegenwart von Witten. Ebenso viel Gewicht hat der performative Aspekt mit großer Durchlässigkeit zur Aktions- und Bildenden Kunst und dies seitens zahlreicher, über den ganzen Globus verteilter Protagonisten, die sich aus vielen gesellschaftlich relevanten Beweggründen heraus artikulieren. „Call for Nature“ lautete der Titel für eine Freiluft-Veranstaltung im ältesten Industriedenkmal des Ruhrgebiets, der Zeche Nachtigall. Dass hier ein Werk für ein „Feuerwaffen-Ensemble“ auf dem Programm stand, weckte allein schon die Neugier, um nach hierhin anzureisen. Und ja – tatsächlich bilden die Mitglieder des Monochrome Projects auf dem altem Zechengelände eine Art Peloton, um nach genauer rhythmischer Vorgabe eine Auswahl aus Revolvern und halbautomatischen Pistolen abzufeuern. Verantwortlich für die ohrenbetäubende, an einer Felswand des nahegelegenen Steinbruchs widerhallende Knallerei zeigt sich der amerikanische Aktionskünstler und Komponist Raven Chacon, der vermutlich keine Antwort auf die Frage geben wird, was er damit „sagen“ möchte. Chacons großes künstlerisches Thema ist die Hinterfragung der Rolle des Menschen, wie er sich seine Natur unterworfen hat. Soll es nun befriedend wirken, wenn Schusswaffen zugunsten einer künstlerischen Inszenierung dekontextualisiert werden? Warum nicht – es hat schon etwas in diese Richtung, wenn „Instrumente der Gewalt, zur Veredelung des Rechts und der Macht“ zu Musikinstrumenten für einen sanfteren Widerstand werden. Ganz „werkgetreu“ wurde das Stück vom Monochord Project aber nicht uraufgeführt. Die Originalversion aus dem Jahr 2001 sieht tatsächlich scharfe Munition für dieses Spektakel vor, während vor der Zeche Nachtigall nur Platzpatronen zum Einsatz kamen. Zuvor hatte der dortige Schützenverein den Musikern eine Grundausbildung an der Waffe gegeben. So wollen es die deutschen Sicherheitsvorschriften und so kann konstruktive Kooperation zwischen einem internationalen Musikfestival und den lokalen Gegebenheiten mal daherkommen. Dass es Raven Chacon letztlich immer um die Hinterfragung der Vereinnahmung von Natur geht, bewies der zweite Teil dieses Freiluft-Konzerts, wo das Monochrome-Project wieder zu den Trompeten griff, um das idyllische Setting vor einem großen Steinbruch mit einem Mix aus parodierten Jagdfanfaren und brachialer Live-Elektronik zu bestücken.
Wittener Tage: Poesie der Obertöne
Der beglückende Aspekt bei einem Witten-Besuch ist jedes Mal, wenn sich plötzlich neue, überraschende Zugänge zu etwas, was gerade noch fremd war, auftun. Wenn aus dem Erstaunen plötzlich ein verstehendes Erfassen wird. Solche Zustände brachte die Uraufführungen der italienischen Komponistin Francesca Verunelli hervor, die als Schwerpunkt-Künstlerin gleich mehrfach im Programm vertreten war. Ihr Anliegen sind vor allem klangliche Feinstrukturen, besonders in den Obertonspektren, die aber kein Selbstzweck bleiben, sondern schließlich wieder auf hypersensible Poesie abzielen. Solche Prozesse betörten im Stück „In Margin“, welches vom Ensemble Resonanz unter der Leitung von Friederike Scheunchen einfühlsam musiziert wurde. Übrigens handelt es sich hier um ein Auftragswerk des Acht-Brücken-Festivals in Köln. Beim Abschlusskonzert mit dem WDR-Sinfonieorchester zeigte sich, dass Verunellis kompositorischer Tiefsinn auch über der ganzen kolossalen Klangwucht des WDR Sinfonieorchesters souverän herrschen konnte.
Die Wunderkammern öffneten sich
Witten möchte auf jeden Fall noch mehr echtes Festival sein und bewies, dass es dies auch hinbekommt. Ein nächtliches Elektronik-Konzert seitens des Synthesizer-Trios Lange/Berweck/Lorenz katapultierte die versunken Lauschenden mit neuen Stücken und freien Improvisationen für analoge, elektronische Klangerzeuger in eine Ära der live gespielten elektronischen Musik aus den Pionierjahren der legendären Analogsynthesizer. Vorlage dazu waren Kompositionen von Pierre Jodlowski, Thomas Kessler, Heinbach und vor allem auch Christina Kubisch, die eine echte Pionierin der elektroakustischen Klangforschung ist. Später kam noch der Musiker Hainbach dazu, der ein extrem bizarres Instrumentarium aus meterlangen Tonbandschleifen plausibel einfügte. Vieles bleibt frei improvisiert in solche einem Setting, wo die vielen Wunderkammern aus Filtern, Oszillatoren und vielem mehr Zufälliges und Unwiderholbares erzeugen. Aber so ist es halt, wenn maximalem künstlerischen Freiheitsdrang Türen und Toren geöffnet sind. Hervorragend passten die Nebelwolken und die intensive Lightshow, von der sich in dem Moment sogar das Moers-Festival noch eine Scheibe hätte abschneiden können.
Dies sind nur einige Schlaglichter aus den insgesamt 19 Uraufführungen in 14 Konzerten. Ebenso muss man hier auch mal den öffentlich-rechtlichen Rundfunks würdigen: Sämtliche Konzerte zuzüglich ausgiebiger Erläuterungen, Interviews und Hintergrundgespräche sind im Nachhinein in den Mediatheken abrufbar und wurden zu den besten Sendezeiten auch live übertragen.
Titelfoto @ Claus Langer