Es ist kaum zu glauben, aber das Werkverzeichnis des venezianischen Komponisten Antonio Vivaldi umfasst in der Tat mehr als 730 Titel. Da mutet es fast schon ungerecht an, dass in der Regel immer nur die „Vier Jahreszeiten“ aufgeführt oder eingespielt werden. Wer sich dieses barocke Werk aber einmal näher betrachtet wird feststellen, welch ein Spektrum an Interpretationen der Zyklus zulässt. Und gerade darin liegt der Reiz für jedes Orchester und für jeden Solisten, eine ganz persönliche Sichtweise musikalisch umzusetzen.
So geschehen auch bei der vorliegenden Aufnahme des Orchestra La Scintilla. Schon beim allegro des Concerto No. 1 „La primavera“ op. 8/1 wird auf Anhieb deutlich, dass beabsichtigt wird, sich von den üblichen Hörgewohnheiten zu trennen. Die Launen der Natur wurden nur selten in ein derart herbes Klangbild eingefangen. Abgesehen davon, dass die Einspielung auf Basis der historischen Aufführungspraxis vorgenommen wurde, sind Erwartungshaltungen gänzlich zurückzuschrauben. Wer sich darauf einlassen kann, wird mit einer eindrucksvollen und originellen Orchestrierung belohnt.
Das fröhliche Zwitschern der Vögel klingt frisch und lebendig, das Gewitter derb, direkt und sturmentfachend. Keine einschmeichelnd warme, aber dafür experimentelle und unkonventionelle Art der Interpretation. Vivaldi hätte es sicherlich gefallen.
Das meisterhaft gespielte und interpretatorisch außerordentlich gelungene allegro non molto des Concerto No. 4 „L ́inverno“ op. 8/4 lässt die Kälte des Winters spürbar unter die Haut gehen. Die Schlittschuhläufer drehen auf dem zugefrorenen See ihre Runden, während die Zuschauer vor Kälte zittern. Die Detailverliebtheit Vivaldis findet in der hier vorliegenden Aufnahme den passenden Rahmen. Die gerade bei diesem Werk so wichtige und häufig vernachlässigte Rhythmik wird sowohl vom Orchestra La Scintilla als auch vom Solisten Riccardo Minasi gut aufeinander abgestimmt.
Die Jahreszeiten des ebenso berühmten Opernkomponisten Verdi wurden dieser CD als passende Ergänzung beigefügt. Dieses Werk ist ursprünglich nur unter Druck entstanden, denn bis ins 19. Jahrhundert war es so üblich, dass Balletteinlagen in eine Oper eingefügt wurden. Auch Verdi musste sich da wohl oder übel dieser Tradition anpassen und komponierte für seine Oper „Les vepres siciliennes“ diese in seinen Augen wohl „Unterbrechung“ der recht blutigen Handlung, denn das Ballett hat mit dem eigentlichen Inhalt der Oper nichts zu tun. Trotzdem ist dieses häufig übersehene Kleinod eine wunderbare Komposition mit walzerähnlichen Einlagen. Der sizilianische Touch ist unverkennbar. Die Beschreibung der Jahreszeiten haben durchaus Suggestivcharakter und werden vom Orchestra La Scintilla facettenreich, tänzerisch und klangschön gespielt. Die räumliche Abbildung ist präzise, der Bass druckvoll.
Nach seinem Tod geriet Vivaldi fast völlig in Vergessenheit und wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. Seitdem wurden die „Vier Jahreszeiten“ unzählige Male auf sämtlichen Tonträgern veröffentlicht. Aber gerade diese Aufnahme ist es wert, auf den Merkzettel gesetzt zu werden. Obwohl das Digipack von der Covergestaltung eher unscheinbar daherkommt, überzeugt der Inhalt auf ganzer Linie. Wer bereit ist, sich auf einen Vivaldi des 21. Jahrhunderts einzulassen, liegt mit dieser Einspielung auf ganzer Linie richtig.