Seit 45 Jahren prägt der Klassik-Veranstalter Ibercamera das musikalische Leben Barcelonas. Was mit einzelnen Konzertabenden auf einem ehemaligen Fabrikgelände begann, mündete schon fünf Jahre später in die erste Konzertsaison, die von keinem geringeren als Daniel Barenboim im altehrwürdigen Konzertsaal „Palau de la Música Catalana“ in der Altstadt Barcelonas eröffnet wurde. Das war 1985. Da war der Bau eines modernen Auditoriums, fernab vom touristischen Zentrum der Stadt, noch nicht einmal in Planung. Die Konzeption des beeindruckenden Komplexes „L’Auditori“ war Teil der städtebaulichen Maßnahmen im zeitlichen Umfeld der Olympischen Spiele im Jahr 1992 und ist ein Beispiel für funktionierende Planung und gelungene Architektur.

Der multifunktionale Bau, der neben dem 2200 Personen fassenden Konzertsaal auch zwei Kammermusiksäle, ein Musikmuseum und die „Escuela Superior de Música de Catalunya“ beherbergt, ist mehr als einen Besuch wert und es ist nicht verwunderlich, dass Ibercamera schon im Jahr der Eröffnung (1999) mit seiner Konzertreihe in den großen Saal, die „Sala Pau Casals“ im Auditorio umzog. Jessey Norman, Mauricio Pollini und das das BRSO unter der Leitung von Lorin Maazel waren unter den illustren Gästen der ersten Spielzeit im neuen Ambiente.
Die aktuelle Saison von Ibercamera ging jetzt mit einem Auftritt der Wiener Symphoniker zu Ende. Die kamen mit ihrem Chefdirigenten Petr Popelka und Stargeiger Renaud Capuçon. Nach einem im Ausdruck kontrolliert gestalteten Auftakt mit Beethovens Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“ gab das Mendelssohn Violinkonzert op. 64 einen Vorgeschmack auf das enorme klangliche Spektrum des Wiener Orchesters. Mit schlafwandlerischer Sicherheit und herb-schönem Ton bewegte Capuçon sich durch den ersten Satz, den Popelka in leidenschaftlicher Wucht ausklingen ließ und den nahtlosen Übergang ins Andante damit effektvoll in Szene setzte. Spätestens da wurde die anfangs an das Publikum gerichtete und irritierende Durchsage, zwischen den Sätzen bitte nicht zu applaudieren, obsolet.

Der zweite Konzertteil begann mit einem Geschenk der Wiener an das Publikum in Barcelona. Wer jedoch beim „Dynamiden-Walzer“ op. 173 von Johann Strauss gefühlsseeliges Walzerglück erwartete, wurde eines besseren belehrt. Petr Popelka präsentierte eine schlanke Version, die dem Farbenreichtum und der Komplexität dieser Musik voll und ganz gerecht wurde und begeisterte. Die darauf folgende Rosenkavalier-Suite von Richard Strauss war ein Rausch, der viel zu schnell vorbei ging. Dichter und spannungsvoller kann man kaum musizieren und die Wiener spielten – von Raum und Zeit enthoben – als gäbe es keinen Zweifel daran, dass diese Musik auch auf dem Mond noch ihre Wirkung erzielen würde. Ohne die beiden Gute-Laune-Zugaben hätte diese womöglich auch in Barcelona noch länger nachgehallt.
Der Veranstalter Ibercamera hat seine neue Saison schon veröffentlicht und jedem Barcelona-Besucher sei ein Blick auf dessen Homepage und auf die des Auditoriums empfohlen. Dass die Programmhefte der Konzerte ausschließlich in katalanischer Sprache, derer kaum ein Europäer außerhalb Kataloniens mächtig ist, ausliegen, ist eine kleine bittere Pille, die man zur Kenntnis nimmt. So wie man auch aufmerkt beim Entdecken der Konzerttermine des seit Kriegsbeginn umstrittenen Dirigenten Teodor Currentzis, der mit seinem von russischen Unternehmen gesponserten Ensemble MusicAeterna gleich zwei Mal bei Ibercamera zu Gast ist. Und schon ist man drin im Gedankenstrudel der politischen Zusammenhänge, die überall präsent sind. Dabei wäre es doch schön, sich an solchen Konzertabenden davon mal völlig frei zu machen und Wolkenkuckucksheim zu genießen… Aber eigentlich reicht es ja schon, sich hin und wieder von moralischen Überlegenheitsgefühlen zu trennen und anzuerkennen, dass die Musik selbst sowieso größer ist als persönliche Haltungen und zeitloser als das Zeitgeschehen selbst.
Titelfoto © Mario Wurzburger