Von Simon Berger
Innovative Uraufführungen hat Berlin in den vergangenen Jahren etliche gesehen und gehört. Oft scheint etwas auf den ersten Blick zu fesseln, um dann vom nächsten kulturellen Ereignis wieder überdeckt zu werden. Und nicht selten bleibt die Frage, ob wirklich ein wegweisender neuer Weg beschritten wurde.
Das erlesene Publikum des interdisziplinären Zyklus KALEIDOSCOPIA – Dialoge über Isolation und Fremdheit, über Nähe, Begegnung und Distanz – in der Berliner Parochialkirche im Juni 2021 wird jedenfalls davon erzählen können, nicht nur einer innovativen, sondern sinnlich berauschenden, äußerst berührenden und gleichzeitig sich auf ausnahmslos hohem Niveau bewegenden Uraufführung beigewohnt zu haben.
Das Asambura Ensemble aus Hannover, interkulturell und international besetzt, entwickelt in KALEIDOSCOPIA ungehörte klangliche Dimensionen. Es entstehen scheinbar meditative Klangpassagen, die nebeneinander koexistieren. Immer wieder aufs Neue überrascht dabei die Vielfalt der Klänge, die Komponist Maximilian Guth (bereits mehrfach international und national ausgezeichnet) mit ungewöhnlichen, auch außereuropäischen Instrumenten entstehen lässt. Geflüstert, gelesen oder projiziert werden dazu Texte von Menschen, die Ausgrenzung, Unterdrückung und Diskriminierung erlebt haben. Assoziationen aus Schuberts „Winterreise“ werden neu kontextualisiert, wie das Asambura-Ensemble dies bereits in ihrer von der Fachpresse hochgelobten CD „Fremd bin ich eingezogen“ (decurio) eindrücklich bewiesen hat. Das Asambura Ensemble interpretiert und kontextualisiert klassische Musik mit interkulturellen und interreligiösen Dialogperspektiven klanglich neu, macht vertraute Klänge innovativ hörbar und schlägt Brücken zwischen vermeintlich Gegensätzlichem. In bewusster Reibung mit der kulturell diversen, von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Konflikten getragenen Gegenwart entwickelt Asambura eine Klangsprache, die neue Perspektiven eröffnet.
Bei der Uraufführung von KALEIDOSCOPIA entsteht dabei eine seltsam schwebende, stille Faszination für die einzelnen Facetten dieses Projekts. Klangfluktuationen breiten sich im Kirchengewölbe aus, die glockenähnliche Celesta schlägt einen zeitlosen Puls in Zeitlupe, dem immer wieder in choreografischen Übertragungen klagende persische Skalen begegnen. Sie interpretiert ein Zeitmaß als stetigen und ewig fortlaufenden Rahmen, in dem sich individuelles und kollektives Erinnern einbetten und miteinander verweben lässt.
Die unaufdringlichen und äußert passenden Video-Projektionen (Ghazaleh Ghazanfari, Andre Bartetzki) nutzen die rauhen Kirchenwände als Projektionsflächen und verschmelzen mit den Klängen zu einem zusätzlichen sinnlichen Raum. Zudem ist es für die Musiker*innen wie für die Konzertbesucher*innen eine besondere Erfahrung, wie der Raum der Pariochialkirche genutzt wurde, wie durch performative Interaktion inspirierende Kollaborationen mit der Tanzchoreografie, Lichtinstallation, Videokunst und Projektionen eingegangen wurde (Raumkonzept: Kassandra Siebel, Neam Tarek, Licht: David Hesse). Das ausnahmslos hohe Niveau der Aufführung findet seine Entsprechung in der beeindruckenden Tanzchoreographie von Winnie Dias und Pascal Schmidt, beide ehemalige Mitglieder des Hamburg Balletts und international tätig. Die für die Uraufführung eigens konzipierte Choreografie greift Elemente der Musik äußerst feinsinnig, großartig und ausdrucksstark auf und erschafft dadurch neue Bedeutungsräume.
Daniel Moreira dirigiert die anspruchsvolle Partitur mit großer Souveränität und Ruhe. Die Asambura-Instrumentalisten entlocken ihren Instrumenten eine atemberaubende klangliche Vielfalt. Als am Ende der letzte Ton verklungen ist, spinnt sich in einem langen Moment atemloser Stille das erlebte Kaleidoskop in den Köpfen und Herzen des Publikums weiter, bevor enthusiastischer Beifall die Akteure belohnt.
Die Parochialkirche Berlin trug als eine der ältesten Kirchen Berlins mit ihrem beeindruckenden Gewölbe und ihrer Atmosphäre als besonders stimmungsvoller Ort erheblich zum Gelingen dieses Konzerterlebnisses bei. Die in der Parochialkirche beheimatete Kirchengemeinde St. Petri-St.Marien engagiert sich als Mitinitiatorin des HOUSE OF ONE, das alle drei monotheistischen Religionen unter einem Dach vereinen wird, für den interreligiösen Dialog. Dieser interreligiöse Dialog ist auch Kerngedanke der Vision des Asambura Ensemble.
Und: Die Zusammenarbeit wird im kommenden Jahr weitergeführt. Mit der Marien Kantorei Berlin und Kirchenmusikdirektorin Marie-Louise Schneider wird das Asambura-Ensemble das interkulturelle Oratorium MessiaSASAmbura aufführen (Oktober 2022).
Nach der Uraufführung von KALEIDOSCOPIA ist das eine besonders gute Nachricht.
Titelfoto: Asambura Ensemble, Foto von Ghazaleh Ghazanfari