Manche Vorhaben brauchen etwas Zeit, bis man sie umsetzen kann. Die deutsch-amerikanische Komponistin Ingrid Stölzel zu interviewen, hatte ich mir schon länger gewünscht, nun hat es endlich geklappt. Die Faszination die ihre Musik auf mich aber auch andere ausübt habe ich hier im Blog schon öfter beschrieben. Mit der fantasievollen Harmonik und den Räumen, die diese Musik öffnen kann, hat Ingrid Stölzel einen sehr eigenen und erkennbaren Stil, der mir immer wieder von neuem auffällt.
Neben ihrem mittlerweile vor allem im Bereich Kammermusik umfangreichen Werk ist sie seit vielen Jahren Dozentin für Komposition an der University of Kansas, und schon lange in der amerikanischen aber auch der internationalen Neue Musik-Welt sehr präsent.
Nun also hat sie mir Rede und Antwort gestanden. Ausserdem gibt es im und am Ende des Interviews viele Hörbeispiele.
Ingrid, Du wurdest ja in Deutschland geboren und bist hier aufgewachsen, lebst aber schon lange in den USA. Wie ist denn Deine Beziehung zu Deiner “alten Heimat”, gibt es da auch arbeitsbezogene Verbindungen?
Ich habe 1991 Deutschland verlassen, um in den USA zu studieren. Dadurch boten sich mir viele musikalische Möglichkeiten an, die meine Karriere als Komponistin förderten. Trotzdem habe ich die Verbindung zu Deutschland nie verloren. Heutzutage ist es im Vergleich zu den 90er Jahren natürlich einfacher mit Musikern aus der ganzen Welt in Kontakt zu treten und sich auszutauschen. So ist auch in Deutschland das Interesse an meiner Musik in den letzten Jahren gestiegen. Dies freut mich sehr, da ich jedes Mal aufs Neue gerne meine Heimat besuche.
Du betrachtest Neue Musik von der praktischen Seite, und kannst dich gut hineinfühlen in die Musiker*innen in der Neuen Musik. Ist das Voraussetzung für Komponist*innen?
Das ist eine sehr gute aber auch schwer zu beantwortende Frage. Es gibt bestimmt Komponisten*innen, die das anders empfinden als ich, aber für mich ist das Hineinfühlen in die Musiker*innen ungemein wichtig. Schon während dem kreativen Vorgang denke ich an jene, die Stunden investieren werden, um meine Musik zum Leben zu erwecken. Das größte Kompliment von Musikern ist, dass sie mein Stück nochmals spielen wollen.
Weiterhin denkst du beim komponieren auch sehr an die Hörer*innen. Was bedeutet das genau, und wie beeinflusst es Deine Entscheidungen beim schreiben von Musik?
Das ist korrekt. Im Zentrum meiner Musik seht der Wunsch, die Menschen durch meine Werke und die behandelten Themen zu bewegen und Gefühle bei den Hörer*innen auszulösen.
Mich fasziniert an Deiner Musik immer die Kombination von traumanregender Harmonik und Beschränkung auf einen kleinen, sehr persönlichen Hörkosmos. Kannst Du uns etwas dazu sagen, wie Du zu diesen stilistischen Merkmalen gekommen bist, und was sie für Dich ausdrücken?
Das ist wirklich sehr schön formuliert und trifft die Essenz meiner Musik. In meinen frühen Kompositionen hatte ich das Bedürfnis jeden Moment mit Noten zu füllen. Doch dadurch ging meiner Meinung nach das emotionale Potenzial der Musik verloren. Obwohl meine Musik für die Musiker*innen recht anspruchsvoll zu spielen ist, soll doch mein höchstes Ziel eine gewisse Simplizität des Ausdrucks sein. Melodie und die natürliche Entfaltung des Linearen spielen ebenso wie der Wunsch nach einer emotionalen Verbindung mit den Musiker*innen und Hörer*innen eine wichtige Rolle in meinen Kompositionen. Schon Leonardo Da Vinci sagte: „Einfachheit ist die höchste Stufe der Vollendung“ und ich finde in dieser Aussage steckt viel Wahrheit.
Jetzt erscheint mit “Leonardo Saw the Spring” für Flöte und Klavier eine neu eingespielte Komposition von Dir. Es beruht auf einer Ekphrasis namens “Drawing of Roses and Violets”, also einem Gedicht, das ein anderes, bildendes Kunstwerk sehr bildhaft beschreibt. In diesem Fall ist das eine Zeichnung von Rosen und Veilchen von Leonardo da Vinci. Du hast bereits in einer ganzen Reihe von Stücken Gedichte vertont. Was macht bei Dir die Faszination aus, Musik und Poesie zusammenzubringen?
Ich vertone gerne Gedichte für Gesang bei denen bei mir natürlich die Worte im Vordergrund stehen. Wo hingegen bei Poesie ohne Gesang die Musik im Vordergrund steht. Die Worte inspirieren die Struktur und die emotionale Klangwelt der Komposition.
Es bereitet mir unheimlich viel Freude die Bedeutung der Worte abstrakt in Musik zu übersetzen und immer wieder neue Inspirationen zu entdecken. Für Hörer*innen und Musiker*innen kann die Poesie auch tiefere Zusammenhänge in der Musik verdeutlichen. Dies wurde auch für mich erfahrbar bei der Aufnahme und Prämiere von „Leonardo Saw the Spring“. Ich bin besonders glücklich mit der Einspielung von Sophia Tegart an der Flöte und Michael Seregow am Klavier, die meine Musik nicht nur auf technischer, sondern auch auf geistiger Ebene erfassen konnten.
Möchtest Du durch des Vertonen von Ekphrasis, der ohnehin schon interdisziplinären Situation eine weitere Ebene hinzufügen, und damit ein eher multimediales Gesamtereignis schaffen?
Ich liebe es, wenn dem Publikum während einem Konzert das Gedicht sowie das Bild entweder in gedruckter Form oder als Projektion zur Verfügung stehen. Jede Strophe von „Drawing of Roses and Violets“ entspricht einem Satz meiner Komposition.Die Absicht meines Schaffens drückt sich am Besten im Vorwort der Gedichtsammlung „Sight and Sound“ aus: “The aim of this little volume is, as far as may be, to translate into verse what the lines and colours of certain chosen pictures sing in themselves; to express not so much what these pictures are to the poet, but rather what poetry they objectively incarnate.” Übersetzung: „Das Ziel dieses kleinen Bandes ist es, so weit wie möglich in Worte zu übersetzen, was die Linien und Farben bestimmter ausgewählter Bilder in sich singen; nicht so sehr auszudrücken, was diese Bilder für den Dichter sind, sondern welche Poesie sie objektiv inkarnieren.“ Genau hier liegt meine Intention, die Musik zu finden, die von Natur aus in der Poesie und der Zeichnung eingebettet ist.
Die Autorinnen des Gedichtes “Drawing of Roses and Violets” – Katherine Harris Bradley und Edith Emma Cooper – arbeiteten unter dem männlichen Pseudonym Michael Field. Denkst Du diese Situation hatte auch Einfluss auf ihre Werkauswahl bei dem Gedicht “Drawing of Roses and Violets”, und hat das auch Deine Auswahl beeinflusst?
Als ich das Gedicht zum ersten Mal gelesen habe war mir nicht bewusst, dass es durch die Kooperation zweier Autorinnen entstanden ist. Zunächst hat mich der Title der Sammlung: „Sight and Sound“ fasziniert. Mit dem Wort „Sound“ (Klang) assoziierte ich unmittelbar die Möglichkeit viele musikalische Beziehungen zu entdecken. Die Tatsache, dass Michael Field ein Pseudonym ist, hatte somit nicht nur Auswirkungen auf meine Auswahl, sondern beeinflusste auch meine Interpretation und die Gestaltung der Musik. Meiner Meinung nach, wird dies besonders deutlich durch die Interaktion von Flöte und Klavier.
Die Aufnahme ist am vergangenen Freitag auf dem Centaur Label erschienen. Gibt es einen guten Weg für unsere Leser*innen, sich das anzuhören?
In das Album „Palouse Songbook“ kann man hier reinschnuppern.
Neue Musik in Deutschland hat oft eher abstrakten Charakter, da wirken Deine Werke sehr harmonisch. Denkst du, das Publikum in den USA ist offener für Deinen Stil?
Ein großer Unterschied zu Deutschland ist, dass in den USA viele Stile nebeneinander unterstützt werden. Ich unterrichte Komposition an der Musikhochschule der „University of Kansas“ und zu meiner großen Freude schreiben meine Student*innen Stücke in ganz unterschiedlichen Stilistiken.
Dein Hauptfeld ist die Kammermusik. Nun kam letztes Jahr mit “City Beautiful” aber wieder ein Werk für Orchester. Liegt diese Verteilung nur an der Art der Aufträge die Du bekommst, oder gibt es da auch persönliche Präferenzen?
Das hängt im Wesentlichen von meinen Aufträgen ab. Momentan komponiere ich ein Stück, welches durch ein Konsortium von 50 Bläserorchestern in Auftrag gegeben worden ist. Als Inspiration diente mir „Lingua Ignota“ (lateinisch für: unbekannte Sprache), eine konstruierte Sprache samt Alphabet, die von Hildegard von Bingen für mystische Zwecke erschaffen worden ist. Meine Komposition habe ich in Anlehnung daran „Musica Ignota“ betitelt.
Hier noch einige meiner Lieblingswerke von dir. Für die Leser*innen ist das gerne eine Hörempfehlung. Magst Du uns zu den Werken ganz kurz beschreiben, was Dir jeweils daran besonders wichtig ist?
The Voice of the Rain (2018) ist eine Komposition für Flöte, Cello und Perkussion; ebenfalls mit unterliegendem Gedicht von Walt Whitman, einem meiner Lieblingsdichter. Die Prämiere dieses Stückes fand übrigens in einem Gefängnis statt.
The Gorgeous Nothings (2016): Dieser Liederzyklus ist meine am häufigsten aufgeführte Komposition für Sopran, Flöte, Oboe und Klavier. Als Text vertonte ich Fragmente der Lyrikerin Emily Dickinson, welche sie auf Umschlagsklappen und Papiertüten niedergeschrieben hat.
Unus Mundus (2017) ist für Solo Klavier und wurde von der koreanischen Pianistin Eunmi Ko anlässlich der Hundertjahrfeier von Isang Yun in Auftrag gegeben.
The Road is All (2007) ist ein älteres Stück für Klaviertrio. Der Title und die Inspiration stammen von einem Zitat des französischen Historikers Jules Michelet aus dem 19. Jahrhundert: „Le but n’est rien; le chemin, cest tout.“ (Das Ende ist nichts; der Weg ist alles).
Ingrid, vielen Dank für dieses Gespräch!
Titelfoto: Ingrid Stölzel, Foto von Cristian Fatu