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Einfach Klassik.

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Estnisches Sängerfest: Ausdruck nationaler Identität

Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs

Nein, es ist kein Fake, es ist eine Programmposition im Länderschwerpunkt ESTLAND des diesjährigen Usedomer Musikfestivals: ein Estnisches Sängerfest und damit substanzieller Bestandteil eines nationale Komponenten in den Mittelpunkt stellenden Konzepts. Das Ganze natürlich in Kleinformat, als pars pro toto für die wahren Sängerfeste etwa in Tallin mit zig zehntausend Sängern und sechsstelliger Besucherzahl. In der gotischen Backsteinkirche St. Petri zu Wolgast reichte kürzlich aber auch der Chor der Estnischen Akademie der Wissenschaften, um Charakteristisches über Geschichte, Geist, Repertoire und Wirkung dieser bis auf den heutigen Tag ungemein identitätsstiftenden Großveranstaltungen im Baltikum – denen ähnliche in Litauen und Lettland hinzuzufügen wären – zu vermitteln. Zu Historischem hier nur so viel: Singen steht am Anfang der schriftlich überlieferten estnischen Geschichte.

Singen prägt die Christianisierung, die Zeit der Reformation (evangelische Choräle, teils auch auf estnische Texte) und in verschiedenen, meist volkstümlichen Formen die späteren Jahrhunderte. 1828 ist der erste größere Männerchor nachweisbar, und 1869 findet das erste estnische Sängerfest statt – Ausgangspunkt einer Entwicklung, die unter vielen Schwierigkeiten Fahrt aufnimmt und sich teils sehr mühsam, oft auch aufs Schwerste behindert (Verbote unter den Zaren und in Sowjetzeiten), zu jenen glanzvollen, sehr bewusst national intendierten  Präsentationen entwickelt, die die gegenwärtigen Sängerfeste schon lange prägen. 

Chor der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Foto © Geert Maciejewski
Chor der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Foto © Geert Maciejewski

Nun also Wolgast! Hier sorgten 60 Sängerinnen und Sänger des genannten akademischen Chores für das charakteristische estnische Sängerfestfeeling beim Estnischen Sängerfest. Das bedeutete zum Beispiel den Verzicht auf professionell anspruchsvolle konzertante Chorliteratur und dafür das traditionsbedingte Bevorzugen relativ kurzer, prägnanter, vor allem eingängiger Chorsätze choralartigen oder liedhaften, auch folkloristisch begründeten und zumeist schlicht vierstimmigen Charakters. Der Zweck: die schnelle Mitsingemöglichkeit als Mittel, eine Gemeinschaft zusammenzuführen, ja zusammenzuschweißen. Und das gesungene Liedgut als identitässtiftend vor allem über schwierige Zeiten hin zu bewahren, es jederzeit verfügbar zu halten und weiterzugeben. Da passte der erste Satz des Programmheftes: „Eine Nation werden durch gemeinsames Singen…“ Erhellend aber auch jene zumeist historisch wichtigen und eine Einordnung des Programms besser ermöglichenden Informationen, die die  durch das Programm führende Musikjournalistin Julia Kaiser anbot. Aber ohnehin war dem aufmerksam Zuhörenden schnell klar, dass es an diesem Abend nicht um bloße Töne ging und auch „schöne“ Musik nicht das Ziel war. Eher schon – deutlich erkenn- und fühlbar – die Gewichtung des einzelnen Chorsatzes als Botschaft, mal mehr, mal weniger konkret, als Choral, mehrstrophiges Lied, im Naturton oder als Bekenntnis zu einem (nicht immer schon vorhandenen, aber stets angestrebten) eigenen Heimatland, als Dokument lange vergangener Zeiten bis hin zur „singenden Revolution“ von 1991. 

Chor der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Foto © Geert Maciejewski
Chor der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Foto © Geert Maciejewski

In dieser Hinsicht bot das Programm beim Estnischen Sängerfest mit rund zwei Dutzend (hierzulande hinsichtlich Text und Musik völlig unbekannten) Chorsätzen beste Einblicke. Nicht zuletzt im Hinblick auf deren musikalische Gestaltung. Drei Chorleiter (!) für die Besetzungen als Frauen-, Männer- beziehungsweise gemischten (Gesamt)Chor (Andrus Siimon, Tönis Sarap, Igor Nikiforov) präsentierten und repräsentierten estnische chorische Sangeskunst in ihrer sicher reinsten, authentischen Form. Prächtig gewandet und ernsten Blickes – die Frauen in Tracht – vermittelte man schon optisch eine machtvolle Geschlossenheit, kraftvolles Selbstbewusstsein und sicher auch so etwas wie Sendungsbewusstsein. Deutlich die Vorliebe für die Wirkung des Einfachen, für schlichte Größe, der es dennoch nicht an erzählerisch deutlicher Aussageorientierung fehlt. Ebenso für den großflächigen, auch nicht selten statisch wirkenden Klang und eine so prägnante wie voluminöse, von stahlhart bis lyrisch leise reichende Stimmgebung. Gesangstechnisch reicht die Palette von faszinierendem legato bis zu hämmerndem, auch neckischem staccato, federnder und markanter Artikulation. Nicht selten erreicht man damit aufmunternde, ja auffordernde Signalwirkung und ist damit oft auch im Wohlfühlbereich des Pathetischen und Hymnischen. Seltener allerdings dort, wo es rustikaler, lebendiger, tänzerischer, ja fetziger, fröhlicher und humorvoller zugeht. Da darf man dann aber von wenigen Beispielen auf einen sicher weitaus größeren Schatz an entsprechenden Kompositionen rückschließen. 

Alles in allem: ein abwechslungs- und kontrastreiches Programm, eine Klangreise, die historische und mentale Spezifika vermittelte und erfahrbar machte. Ein Hörvergnügen mit Erkenntnisgewinn.

Titelfoto: Chor der Estnischen Akademie der Wissenschaften, Foto © Geert Maciejewski

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