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Einfach Klassik.

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Forum Voix Etouffees: Es geht um den humanitären Gesamtklang

Das Forum Voix Etouffees eröffnete in Straßburg eine internationale, von der EU geförderte Konzertreihe 

Wenn der französische Dirigent und Komponist Amaury du Closel sich für unterdrückte Komponistinnen und Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzt, dann engagiert er sich, um künstlerische Stimmen wieder in einem „humanitären Gesamtklang“ hörbar zu machen. Viele Begründer der musikalischen Moderne wurden und werden von verschiedenen Totalitarismen aus Historie und Gegenwart verfolgt. Als starke Stimme wirkt hier das Netzwerk „Voix Etouffées“, ebenso das von Amaury du Closel gegründete Spezialensemble, nämlich das Orchestre de Metamorphoses, das in wechselnden Besetzungen auftritt. Soeben hatte das bislang größte Projekt des Forum „Voix Etouffees“ in Straßburg Premiere: In 25 Konzerten in 17 Ländern verschafft sich Musik, die – aus welchen Gründen auch immer – unterdrückt wurde, endlich Gehör. Soeben wurde das Projekt im Straßburger EU-Parlament mit einem Exklusiv-Konzert und großer öffentlicher Resonanz vorgestellt. 

Ein beseelter Auftakt in Straßburgs Eglise Saint Pierre le Jeune 

Ebenso gab das Auftaktkonzert ein paar Tage vorher allen Beteiligten das Gefühl, an einer großen, wichtigen Sache dran zu sein. Die protestantische Eglise Saint Pierre le Jeune in der historischen Altstadt von Straßburg wurde im gotischen Stil erbaut und ist heute eine coole Venue. Moderne Malereien zieren den Raum. Eine Art Fallschirm hängt von der Decke runter. Statt strenger Holzbänke gibt es sogar loungige Liegestühle. Spürbar und sichtbar ist das Anliegen, kulturelle Gegenwart an diesen Ort zu bringen. Also ist diese Kirche auch der ideale Kooperationspartner mit dem Netzwerk „Voix Etouffees“. 

Orchestre Les Metamorphoes
Orchestre Les Metamorphoses, Foto © Stefan Pieper

Als die hochmotivierten jungen Musikerinnen und Musiker unter Amaurys Leitung loslegen, liegt Begeisterung in der Luft. Davon profitiert Hanns Eislers „Septett Nr. 2 – Der Zirkus.“ Wie kann man diesen Komponisten nur auf die einfältige Melodie der DDR-Nationalhymne reduzieren! Dieser Schönberg-Schüler hat bewiesen, dass Zwölftontechnik mitreißend, signalhaft und eben manchmal auch agitatorisch wirken kann. Im Falle dieser beschwingten Komposition kommt noch eine andere Dimension ins Spiel: Gedacht war das Septett als Soundtrack für einen Charlie-Chaplin-Film. Mächtig legen sich jetzt die Musikerinnen und Musiker unter Amaury du Closels Leitung ins Zeug, um ein unglaublich packendes Hörkino zu erzeugen. Voller rascher Schnitte, als wären die vielen Taktwechsel am Schneidetisch festgelegt werden. Mit einer Farbenpracht, welche die Gefühlswelten imaginärer Leinwanddarsteller ohne Umschweife in die Köpfe der Hörenden projiziert. Dieses tief verstehende Musizieren macht deutlich, warum so manche Puristen die Erfindung des Tonfilms als kulturellen Niedergang betrachteten. Aber dieses erstaunliche Werk erhebt sich auch immer wieder über den cineastisch-funktionalen Aspekt. Zur Realisation eines Filmes mit dieser Musik ist es leider nie gekommen.

Es war gut, zur Vorbereitung für den zweiten Programmpunkt dieses Konzertes auch die Texte zu Schönbergs Liederzyklus „Vom Buch der Hängenden Gärten“ zu studieren. Denn Stefan Georges zugrunde liegende Aphorismen sind ein metaphernreiches Psychogramm einer erotischen Liebesbeziehung, wo alle Zustände von Hingabe und innerer Spannung, ebenso eine eigenwillige Vermengung von Traumwelt und Wirklichkeit auf möglichst wenige Worte komprimiert werden. Und genau diesen Weg ging Arnold Schönberg im Jahr 1908, wenn er bei der Vertonung auf konventionelle tonale Formen keine Rücksicht mehr nahm, um dem Unaussprechlichen klanglich stärker als je zuvor zu Leibe zu rücken. Maria Ostroukhova erweist sich hier als eine begnadete Interpretin, deren Mezzosopran die ganze fiebrige Sinnlichkeit und innere Ergriffenheit dieser Traumsequenzen lebendig macht. 

Orchestre Les Metamorphoes
Orchestre Les Metamorphoses, Foto © Stefan Pieper

Amaury du Closel sieht seine Mission darin, diesen Reichtum an eine jüngere Musikergeneration weiter zu geben. Einer aus dem Ensemble bezeichnete dieses kleine Orchester im Gespräch dann auch völlig selbstverständlich als „Band“. Warum dies die Sache trifft, stellt der dritte Programmpunkt klar: Aleksander Tansmanns Septett aus dem Jahr 1932 treibt voran, groovt und rockt, so dass man kaum noch still sitzen möchte. Tansmann war von Igor Strawinsky sowie von französischen und amerikanischen Einflüssen geprägt und hat später in Hollywood zahlreiche Filmmusiken komponiert. Die Besetzung Viola, Flöte, Klarinette, Oboe, Trompete und Cello ist allein schon schräg genug. Genial und raffiniert wirkt eine kontrapunktische Logik wie ein treibender Motor, auf dem sich die ganze Spielfreude entfaltet. Publikum und Ausführende sind gleichermaßen elektrisiert – also geht der letzte Satz nochmal in die Wiederholung, nimmt noch mehr Fahrt auf. Hinter all dem steht akribische Feinarbeit. Spannend mitzuerleben war auch die Probe zuvor, in der Amaury du Closel auch feinste Details nicht dem Zufall überließ. Mit der Folge, dass das Orchester les Métamorphoses ohne weiteres als Referenz für solches Repertoire betrachtet werden kann.

Die frühe Moderne hat es gleich doppel schwert, sich Gehör zu verschaffen

Haben die ganzen Heerscharen von Touristen, die an diesem Feiertagswochenende Straßburg bevölkern überhaupt eine Ahnung, was für ein Glück es sein kann, Menschen, die eine solche Musik aufführen, zu erleben? Wohl kaum. Und genau hier kommt ein anderer subtiler Totalitarismus von heute ins Spiel. Ein kommerziell ausgerichteter, das Risiko scheuender Konzertbetrieb (und die Unterhaltungsindustrie sowieso…) unterdrückt viele bahnbrechende Novitäten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und enthält damit vielen Menschen bedeutsame Erfahrungen vor. Die neue Musik ab der Nachkriegsavantgarde ist hier – zumindest finanziell – wieder bevorzugt, da sie auf viele öffentliche Förderungen zurück greifen und viele Festivals als lebendige Schutzräume für dieses Kulturgut existieren. Die frühe Moderne rangiert hier gewissermaßen zwischen allen Stühlen und auch dieser Umstand macht die Arbeit von Amaury du Closel so kostbar.

Amaury du Closel, Foto © Stefan Pieper
Amaury du Closel, Foto © Stefan Pieper

Musik als Waffe der Unterdrückung

Dem aktuellen EU-Projekt geht es um die politische Dimension – und zwar in einer internationalen Größenordnung, die es so bislang noch nicht gab. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine markiert einen Zivilisationsbruch im Europa des 21. Jahrhunderts. In vielen Ländern fühlen sich Kunst und Musik herausgefordert, als „Waffe gegen Unterdrückung“ zu wirken. Auf der Agenda stehen aktuell 25 Konzerte in 15 EU-Mitgliedstaaten. Ebenso sind mit der Ukraine und Bosnien-Herzegowina zwei Nicht-EU-Mitglieder dabei. Ende des Monats könnte sich auch ein Termin in Sarajevo lohnen: Am 25. und 26. Mai führt ein dort ansässiges Orchester unter anderem jene Protestmusik auf, mit der im Bosnien-Krieg gegen die serbische Belagerung protestiert wurde. Zu einem internationalen Symposium in Kaunas treffen sich am 29. und 30. September Expertinnen und Experten aus Musikologie, Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Zeitgeschichte. Auch hier geht es um die Rolle der Musik im Kontext der europäischen Kriege im 20. und 21. Jahrhundert.

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Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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