Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern haben ihren diesjährigen Festspielsommer beendet. Und es steht eine Bilanz steht zu Buche, die den Veranstalter freuen dürfte: in drei Monaten (14. 06. bis 15. 09.) gab es rund 130 Konzerte an landesweit 92 (!) Spielstätten, die von gut 65.000 Musikfreunden besucht wurden. 50 Veranstaltungen waren ausverkauft. Es gab 5 Uraufführungen, eine Vielzahl das Gesamtprogramm strukturierende Themenkomplexe und mit dem SIGNUM saxophon quartet ein vielbeschäftigtes und überaus erfolgreiches Ensemble in residence. Mit ausnahmslos künstlerischen Spitzenkräften konnte man überdies den als selbstverständlich angesehenen, denkbar höchsten internationalen Qualitätsstandard halten. Auf entsprechende Details sei hier verzichtet, nicht aber auf die von Intendantin Ursula Haselböck geäußerte Genugtuung darüber, dass man erneut Musik ins ganze Bundesland habe bringen können. Man darf besten Gewissens hinzufügen, dass es wohl diese Erdung ist, die in Verbindung mit immer neuen Überlegungen zu kommunikativer Programmgestaltung den bisherigen Erfolg der Festspiele MV und ihrem Festspielsommer sichert.
Wenn es dazu eines letzten Beweises bedurfte, dann gab es ihn am vergangenen Sonntag in Neubrandenburgs architektonischem und akustischem Kleinod, der aus dem 13. Jahrhundert stammenden backsteingotischen Konzertkirche St. Marien. Dort fand das Abschlusskonzert statt, für das sich das Publikum bei der NDR Radiophilharmonie, dem SIGNUM saxophon quartet und der polnischen Dirigentin Marzena Diakun mit frentischem Beifall bedankte. Inbegriffen ein Programm, das für solcherart Zustimmung bestens geeignet war.
Schon der Einstieg geriet zu einer orchestralen Visitenkarte, die in den schönsten, feinsten und leuchtendsten Farben prangte, nämlich Claude Debussys „Fĕtes“ („Feste“) aus den „Trois Nocturnes“. Dirigentin und Orchester verrieten von den ersten Tönen an ein feines Gespür für diese impressionistische Kunst, für deren jenseits jedes Gegenständlichen sich bewegende, heftig pulsierende und oft tänzerisch anmutende Ausdruckskraft. Faszinierend auch die Eindrücke von charchierenden Bewegungen und Lichterscheinungen, von Klangballungen, die die Visionen des Festlichen in den differenziertesten farblichen Abstufungen präsentieren; dies alles nicht ohne Konturen, die sich aber doch in steter, oft vorbeihuschender und momentan Eindrückliches heraufbeschwörender Weise verwischten und alles Geschehen flüchtig erscheinen ließen.
Für den kompositionstechnisch und auch klanglich gegenteiligen Eindruck sorgte man dann mit dem Konzert für Saxophonquartett und Orchester von Philip Glass. Man kennt diesen Meister der metrisch wie ein Uhrwerk tickenden, klickenden, klopfenden, aber auch wuchtig donnernden minimal music schon strenger, orthodoxer. Aber er verleugnet sich in diesem Werk natürlich nicht, verblüfft aber schon ein wenig mit softigen, geradezu romantischen Klängen. Sie sind wohl der Wahl eines Solistenquartetts geschuldet, das unbedingt auch für vierstimmige Wohlfühlharmonien geeignet ist, von denen in diesem Werk vor allem im 1. und 3. Satz ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Für die ganz andere Welt des Heftigen, Kantigen, ja Aggressiven, auch rhythmisch durchrüttelnd Asymmetrischen und -. nicht zuletzt – bestechend Virtuosen stehen dann die Sätze 2 und 4. Keine Frage: das SIGNUM saxophon quartet agierte in der bekannt souveränen Manier, riss zwischen traumhaft verführerischer, lyrischer Gefühlsseligkeit und einer fast obsessiven, markant rhythmischen und fast rauschhaft musikantischen Spielweise das Publikum von den Sitzen. Natürlich nicht allein, denn hinsichtlich der musikalischen Hauptkomponenten des Werkes,nämlich seiner minimalistischen, in vielerlei Besetzungs- und damit Farb- wie Ausdrucksvarianten auftretenden Erscheinungsformen hatte das Orchester gewaltigen Anteil. Ihm oblag jene Klang-Grundierung, die das gesamte Werk in „minimalistischer“ Weise charakteristisch formal strukturiert, gleichzeitig aber ständig (minimalistisch!) wiederholtes gleichbleibendes Material in vielerlei Besetzungsvarianten, also Orchesterfarben, präsentiert. Dies die denkbar beste Klangmatte, auf der sich die vier grandiosen Saxophonisten so originell wie klangbetörend und musikantisch austoben konnten.
Dies gemeinsam mit dem Orchester oft ausgesprochen klangvoluminös, ja geradezu opulent, wenn auch nicht ausufernd. Beim dritten Werk des Abends schienen da diesbezügliche Grenzen noch ausgeweitet. Hier ging es um Astor Piazollas Tango-Suite für Saxophonquartett und Orchester, in der er einige seiner bekanntesten Melodien verwendete; eine Fassung, die der griechische Saxofonist und Komponist Theodore Kerkezos „entsprechend adaptiert“ hat (Programmheft). Was immer das heißt! Das Ergebnis ist eine überaus klangmächtige, ja schon gigantomanische Orchestersuite, deren klangliche Massivität durchaus Gefahr läuft, das nationale Mentale, auch Intime, das Doppelbödige, südamerikanisch Gefühlvolle nicht nur zu überdecken sondern aufzuweichen und seiner Spezifik zu berauben. Wenn da nicht die vier Saxophonisten wären, die mit ihrem solistisch herausgehobenen und fantastischen Spiel eigene Akzente setzten und den Tango als künstlerisch zu vermittelnde Botschaft zu behaupten wussten. Dirigentin und Orchester waren auch hier als wichtige Partner des Soloquartetts ganz auf jener Höhe gestalterischer Professionalität, ohne die ein solches Werk auch ungeachtet seiner jeweils charakteristisch thematisierten Sätze (Preludio, Fuga y Misterioso, Fugato, Milonga del Angel, Libertango) schnell auf bloße Äußerlichkeiten, etwa rasante Tempi, überfallartige Lautstärken oder technischen Aktionismus reduziert werden könnte.
Dann das Finale bei diesem Festspielsommer. Ein „Rausschmeißer“ der raffinierten Sorte und für die von Marzena Diakun so präzise wie inspiriert geleitete NDR Radiophilharmonie ein weiterer Verweis auf ihre hochkarätigen künstlerischen Qualitäten. Hinreißend, mit Witz und Verständnis fürs augenzwinkernd Illustrative, musizierten sie Paul Dukas´ so brillant wie effektvoll instrumentierte Sinfonische Dichtung „Der Zauberlehrling“ (Goethe). Sie präsentierten ein Orchesterscherzo, das von vielen, teils skurrilen Einfällen und Überraschungen lebt, kosteten die vielen gestalterischen Feinheiten, an denen es Dukas nicht hat mangeln lassen, voll aus. Der Weg von einer sichtlich lustvoll ausgelebten (und auch noch bekannten) „Erzählung“ in die Ohren und das Gemüt eines ohnehin schon begeisterten Publikums war kurz; die Reaktionen – siehe eingangs – entsprechend. Fulminanter konnte das Finale des Festspielsommers 2024 kaum ausfallen.
Titelfoto © Geert Maciejewski