Vor einigen Wochen bekam ich durch einen witzigen Zufall das Buch „Not good enough? Vocal Shame among Finnish Classical Singers“ der finnischen Sängerin Iris Seesjärvi geschenkt, und ich habe es dann gelesen als Vorbereitung für ein Interview mit Iris für meinen Podcast „neue musik leben“. Da dieses Buch so viel in mir angeregt hat, was mich in letzter Zeit viel beschäftigt, möchte ich einigen Themen hier nachgehen.
Die Klassik Musikwelt ist besonders, da wir hier meist nur die Stars in ihrer Pracht und Herrlichkeit erleben, erfolgreich und irgendwie glatt. Wir wissen wenig über die Schwächen von klassischen Musiker*innen, als ob das verboten wäre. In anderen Kunstrichtungen, Rock – und Popmusik oder auch der bildendenden Kunst, sind Offenheit über Depressionen, Herausforderungen, Scheitern oder auch der Missbrauch mit Substanzen viel größer. Die Menschen greifbarer, nahbarer und man fiebert vielleicht auch mehr mit. Nicht dass ich immer alles wissen muss, einiges fällt auch unter „too much information“. Daher frage ich mich, würde Offenheit unserem Betrieb gut tun? Wir bekommen auch zu selten das „Making of“ mit und dann ist jemand „plötzlich“ bekannt und berühmt. Und wenn man dann selber struggelt, glaubt man gar zu gerne: mit mir stimmt was nicht. Die anderen bekommen es hin und ich bin halt die, die es nicht so gut kann, die nicht gut genug ist oder hinterherhängt. Und mit Druck und Gedanken in Abwärtsspirale komme ich auch nicht wirklich voran – manchmal ein echter Teufelskreis.
Scham, Angst und Schweigen
Iris Seesjärvi hat eine Master Arbeit zum Thema Scham bei Sänger*innen geschrieben und es war schon schwierig für sie, überhaupt Auskünfte zu finden. Denn auch hier – keine will sich outen, keine will zugeben, dass sie Scham kennen und dann irgendwie gekennzeichnet sind. Und Scham verliert dann ihre Macht, wenn wir darüber sprechen. Das Schweigen vergrößert Scham und Angst und das liegt in der Natur der Sache. Seesjärvi schreibt darüber, wie sich Sänger*innen für ihren Körper, Stimme und Klang schämen können. Und da gerade wir Sänger so eins mit unserem ‚Instrument‘ Körper sind, was sollen wir tun? Wir lehnen uns permanent selbst ab und sind vielleicht sogar latent autoaggressiv mit uns selbst. Und wenn dann noch Kritik und Ablehnung von außen kommt, ist das Kind in den Brunnen gefallen. Wieviel Menschen haben in jungen Jahren ein gesundes Selbstbewusstsein, dass es an ihnen abprallt und sie schnell wieder in ihre Mitte finden? Oder sie auch unterscheiden können, welche Kritik konstruktiv gemeint ist und welche von vornherein einfach daneben ist? Und wer unterstützt die Musiker*innen dabei? Im besten Fall ein wohltuendes und unterstützendes Elternhaus, aber auch das haben und hatten viele nicht. Oder Freund*innen? Das trifft vielleicht schon eher zu. Es erfordert Mut über Themen wie Ablehnung, Kritik und Scham zu sprechen. Manche haben auch das Glück, dass sie wohltuende Lehrer*innen haben, auch das ist noch nicht „normal“. Im Gegenteil: in Iris Buch kommen auch Sänger*innen zu Wort die von ihren Lehrer*innen gebrochen wurden und wo klar war, dass die Lehrkräfte ihre Unzulänglichkeiten an ihnen ausließen. Und warum wird so wenig darüber gesprochen? Weil immer noch die Angst existiert, dass es an mir liegt oder dass ich von der Hochschule geworfen werden könnte. Dennoch entstehen an den Hochschulen immer mehr Möglichkeiten, darüber zu sprechen. Gerade weil in den letzten Jahren unschöne Fälle, auch im Rahmen von #metoo, ans Tageslicht kamen, ist das Bewusstsein gewachsen und es wurden Maßnahmen eingeführt. Und wie sieht es an den Bühnen, Konzertorten oder im Berufsleben aus? Welche Anlaufstellen gibt es dort? Oder bin ich dort als Profi auf mich alleine gestellt?
Und gleichzeitig stelle ich fest, dass ich eher in der „Bubble“ mit aufgeklärten, wertschätzenden und offenen Menschen unterwegs bin. Ich habe Gesangsprofessor*innen wie Holger Falk, Angelika Luz und Sarah Maria Sun interviewt, bei denen ich eine Offenheit und Verletzlichkeit erlebe und auch den Wunsch wirklich den Studierenden zu dienen. Sie in schwierigen Situationen zu stärken und eben nicht Themen wegzudrücken. Und dass es normal ist Ängste und Herausforderungen zu haben und den Sänger*innen zu zeigen, wie man damit umgeht. Denn diese nur zur Seite zu schieben, löst sie nicht und sie holen einen irgendwann ein. Holger sagt, er kommt sich in seiner Arbeit auch ein wenig wie ein Therapeut vor und er nimmt alle Belange ernst. Er sieht auch Zusammenhänge zum stimmlichen Können und sagt dass nicht alles technisch zu lösen ist, manchmal muss man tiefer blicken. Auch Kompositionsprofessor*innen und Freund*innen von mir, wie Moritz Eggert, Iris ter Schiphorst, Judit Varga u.a. die ich mehrfach interviewt habe, haben ein Gefühl dafür, wann sie Student*innen stärken, wann fordern und wann in ihre Eigenverantwortung führen. In meiner „Bubble“ ist man sich dessen bewusst und der Unterricht geht über das Erlernen von Technik und Musikalität hinaus. Und dann tauchen eben Geschichten von Kolleg*innen auf, die anders waren und zum Teil sehr lange zurückliegen. Und auch viele dieser Menschen würden sich nicht öffentlich dazu äußern. Ich frage mich dann, gibt es noch den „old school-Unterricht“ hierarchisch mit viel Rechthaben, mit „Richtig“ und „Falsch“? Oder wie verbreitet ist ein moderner Unterricht mit dem Studierenden auf Augenhöhe, in dem Dinge erforscht werden, ohne sofort in die Kategorien zu fallen? Denn nur dann verändern wir auch das Berufsleben.
Wertschätzender und offenere Umgang
Iris zitiert mehrfach die weltbekannte Sopranistin Karita Mattila aus ihrem Buch „Korkealta ja kovaa“ („Hoch und laut“, leider nur auf Finnisch erhältlich), welche sehr unangenehme Begegnungen teilt und wie schwer ihr Weg in die Sichtbarkeit und den Erfolg war. An anderer Stelle habe ich hier im Magazin „Orchestergraben“ die wunderbare Biographie der Sopranistin Renée Fleming erwähnt, die auch über ihre „schwachen“ Momente schreibt. Und wie wichtig ist dies für (junge) Musiker*innen zu lesen, dass es allen so geht. Niemand ist perfekt! Bei niemanden läuft alles glatt! Und natürlich müssen wir auch nicht übertreiben oder versuchen Mitleid oder Aufmerksamkeit zu erzielen, nein, aber ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit, die unserem Betrieb sehr gut tun würde.
Zum Glück verändert sich das auch in der nachkommenden Generation. Noch vor ein paar Jahren vertauten sich mir Kolleg*innen unter dem Mantel der Verschwiegenheit an, sie litten unter „mentalen Herausforderungen“. Dann bekam ich vor ein paar Wochen ein Stück von einer jungen, queeren Komponistin zugesandt, die darin ihre Bipolare Störung verarbeitet und auch offen darüber spricht. Und dies sind sicher extremere Beispiele, aber offen über Herausforderungen und auch Scheitern, Absagen zu sprechen, das wäre schon was.
All dies beschäftigt mich und ich wünsche uns da mehr Offenheit und Verletzlichkeit im Umgang miteinander – auch deswegen mache ich die Deep Dive Folgen auf Patreon, weil die Themen tiefer sind als in meinem Podcast „neue musik leben“. Und ich freue mich über jeden, der mein Angebot dort annimmt. Und ja, ich sage auch gerne, was ich mir wünsche in unserer Musikwelt, auf den Bühnen, der Arbeit und in den Ausbildungsstätten: Offenheit, Menschlichkeit, Empathie, positiven und wertschätzenden Umgang miteinander. Denn ich glaube, dann haben wir alle noch mehr Freude und Begeisterung, bei dem was wir tun, und können unsere Musik und Kunst auch mit dieser Freude, Begeisterung und Authentizität noch kraftvoller in die Welt bringen.
Über die Deep Dive Folgen
Auf Patreon taucht Irene Kurka mit ihren interessanten Gästen noch
tiefer anhand von Analysen, Tipps, Hintergrundwissen, technischem
Know-How zu Instrumenten, Stimme, Komponieren und vieles mehr.
Zusätzlich unterstützt du sie auch monitär. Danke!
Mit Moritz Eggert spricht sie darüber wie Kompositionsunterricht
abläuft, wie unterschiedlich er Studierende unterstützt und was sein
knallharter Faktencheck ist.
Mit Silke Aichhorn spricht Irene über die Schönheit und Komplexität der Harfe. Ein Muss für Komponierende, die für Harfe schreiben wollen!
Die Folge mit dem Bariton Holger Falk ist magisch. Es geht um Polarität, Bewusstsein, Nichtwissen und alles, was hilft Singen tiefer zu verstehen und auf ein next level zu bringen.
Irenes persönlichste Folge ist über empathische (auch sensible) Menschen im Musikbussiness. Irene spricht über ihre Herausforderungen und welche Strategien sie entwickelt hat.