Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
360º! Dieser Begriff steht für ein Veranstaltungsformat, mit dem die Festspiele MV versuchen, jährlich ein bestimmtes Thema möglichst umfassend zu präsentieren. Sozusagen in einem Rundumblick. Meist geht es um namhafte Preisträger, gern um den jeweils gegenwärtigen „in residence“, der oder die ihr Instrument in möglichst vielen Facetten erscheinen lassen wollen. Das umfasst dann ein ganzes Wochenende und bietet mit mehreren Veranstaltungen – meist aber nicht nur Konzerten – pro Tag die entsprechenden Möglichkeiten. Am letzten Wochenende des Vormonats (27./28. Juli) ging es in Ulrichshusen um das Saxofon. Das lag nahe, denn mit dem SIGNUM saxophone quartet, mit 23 Konzerten der diesjährige Preisträger in residence, war dieses Instrument gleich als Ensemble vertreten. Und das hochkarätig! Es sprach für die Attraktivität des Angebots, dass man sich um einen massenhaften Besuch aller Veranstaltungen keine Sorgen zu machen brauchte.
Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass gerade dieses Instrument in Ensembleform als ausgesprochen konzertwürdiger Garant für künstlerische Erlebnisse der besonderen Art geeignet ist. Vor allem dann, wenn sich die Protagonisten spieltechnisch, vor allem aber tonlich und gestalterisch als kaum zu übertreffende Meister ihres Faches erweisen. Ein Quartett Haydns oder Schostakowitschs? Kein Problem mehr für den Rezipienten. Von Bach, Meistern der Moderne, jazzig oder folkloristisch orientierterMusik ganz zu schweigen. Wenn dann noch – wie oft zu beobachten – ein geradezu obsessives, leidenschaftliches Musizieren hinzukommt, dann kann schon mal die Hütte brennen! Und sie brannte auch in Ulrichshusen. Was also gab es dort zu bewundern?
Den Tag 1 (Sonnabend) konnte der Rezensent nicht besuchen, sein Ablauf sei aber hier mitgeteilt. Vormittags der moderierte Einstieg mit den SIGNUMs und dem in Leipzig lehrenden französischen Komponisten Fabien Lévy, dessen Komposition „Durch, in memoriam Gérard Grisey“ in einem Gesprächskonzert gleich zweimal präsentiert wurde. Informativ dann der (auch am Sonntag mögliche) Besuch einer mit Caryl Florios Allegro de Concert für Saxofonquartett musikalisch umrahmten Ausstellung zur Geschichte des Saxofons. 30 Instrumente aus der Sammlung des anwesenden Attilio Berni (Rom) vermittelten geradezu spannende Einblicke in die schon optisch sensationell wirkende Entwicklung des Instruments. Am frühen Abend dann die Wiederholung des Greifswalder Vortagskonzerts mit Daniel Hope und dem Zürcher Kammerorchester (Elgar, Tschaikowski), in dessen Mittelpunkt ein Auftragswerk Christian Josts stand: „Eismeer: Konzertante Dichtung in drei Sätzen nach dem Gemälde DAS EISMEER von Caspar David Friedrich“ für Saxofon-Quartett, Vibrafon und Streicher (besprochen bereits an diesem Ort, die Aufnahme durch den NDRkultur wird am Donnerstag, dem 22. August um 20.00 Uhr, im Rahmen des ARD-Radiofestivals gesendet). Tagesausklang dann nächtens mit der The Jacob Manz Project Band und dem Saxofonsolisten Attilio Berni.
Am Tag 2 dann ein vormittäglicher Einstieg voller Rasanz – und nicht mit den SIGNUMs. Denn die hatten sich einen äußerst wirkungsvollen Clou ausgedacht und Gäste eingeladen: das Five Sax Saxofonquintett, gegründet 2011 in Wien. Diese fünf Ausnahmemusiker hatten keine Mühe, im ehrwürdigen Schloßsaal von Ulrichshusen die Stimmung blitzschnell zum Kochen zu bringen. Dies mit einem Programm, das sich „Auf musikalischer Weltreise“ nannte und mit diversen Arrangements von Werken Piazollas, Bernsteins („West Side Story“), Rune Tonsgaard Sørensens, von Granados, Chick Corea und Grigoras Dinicu blendende Zeugnisse geradezu umwerfenden, fesselnden Musikantentums abzulegen; eine ausgeprägte Ader für neckische Choreographien bis hin zu schon circensisch anmutenden, szenisch brillant „gespielten“ und hochamüsanten Einlagen – „Hollywood Hits“ – inbegriffen. Schon enorm, was ein Saxofon-Ensemble – seien es vier oder fünf Musiker – an programmatisch-stilistischer Vielfalt, musikalisch-gestalterischer Differenzierungsfähigkeit und musikantischer Sensibilität zu präsentieren in der Lage ist. Und das zwischen softigen Adagio-Klängen zum Niederknien und wirbelnden, buchstäblich vom Stuhl reißenden folkloristischen oder jazzig-rockigen Klangattacken, zwischen barocker Repräsentanz, polyphoner Transparenz sowie klassisch noblem Kammermusikton und der unwiderstehlichen Wucht nahezu orchestraler Musiksprache. Eine eigene Welt, eine tolle Welt voller Überraschungen!
Wie etwa im nachmittäglichen Finale. Das Aufgebot an Mitwirkenden war beachtlich: SIGNUM saxophone quartet, Five Sax (Saxofonquintett), Konstantin Manaev (Violoncello), Nicolas Haumann (Gitarre), Lukas Böhm (Percussion) und Izidor Leitinger ( Leitung). Ein Angebot mit Seltenheitswert, denn wann und wo schon hört man neun Saxofone gleichzeitig! Und das in einem Programm, das mit Arrangements verschiedener Autoren dem gewählten Thema „Meisterwerke aus der Musikgeschichte“ alle Ehre machte: mit Dvořáks berühmtem Slawischen Tanz Nr. 8 g-Moll op. 46 , Friedrich Guldas höchst originellem und vom Solisten brillant musizierten Cellokonzert, Piazollas Le Grand Tango und Tschaikowskis Andante cantabile aus dem 1. Streichquartett op. 11 – beide für Cello und Saxofonquartett, sowie dem Hit „Touch Me, Babe“ von The Doors, einer großen dreiteiligen Suite für großes Saxofonensemble. Stilistisch war damit so ziemlich alles Denkbare vertreten; für nicht wenige im Publikum sicher auch das bislang Undenkbare, zumindest aber Unbekannte. Und so wurde dieser sommerliche Nachmittag zur großen Show einer temporären Musiziergemeinschaft, die es an unterschiedlichsten, gelegentlich auch verwirrenden Eindrücken nicht hat mangeln lassen.
Alles geriet zu einer Parade des mit solcher Besetzung Möglichen; klanglich zart bis überbordend, schlicht bis tumultartig, formal gebändigt bis scheinbar hemmungslos, rauschhaft, ja orgiastisch. Zwischen klassischem Ebenmaß und modern improvisatorischen Ausflügen bis hin zum Tschingdarassabum einer Bierzeltmusik schien kaum ein Ausdrucksbereich zu fehlen – eine perfekte, ungemein überzeugend gelöste Mammutaufgabe der Interpreten einerseits und ein Angebot, das dem Publikum im großen Festspielscheunensaal keine andere Möglichkeit ließ, als außer Rand und Band zu geraten. Die Festspiele MV machten es möglich!! Übrigens wurde auch dieses Konzert vom NDRkultur aufgezeichnet. Sendung am 22. August um 21.40 Uhr im Rahmen des ARD Radiofestivals.