Brahms begann mit der Komposition seiner 1. Sinfonie bereits im Jahre 1862. Die Erwartungshaltungen waren hoch. Das wusste er genau, und ließ sich daher viel Zeit mit der Fertigstellung. Als das Werk 1876 in Karlsruhe endlich erfolgreich uraufgeführt wurde, zeigte er sich trotzdem nicht ganz zufrieden und schrieb den 2. Satz kurze Zeit darauf komplett neu. Da war Brahms bereits 46 Jahre alt. Der Grund unter anderem dafür – wieder einmal – Beethoven. Das große Vorbild war auch gleichzeitig eine Belastung. Wie sollte es nur gelingen, dieser übermächtigen Ikone der Sinfoniemusik zu entkommen und sich nicht ständig dem Vergleich stellen zu müssen? Eine Frage, mit der sich Brahms zeitlebens beschäftigte. „Du hast keinen Begriff davon, wie unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört“, beschwerte er sich einmal bei dem Dirigenten Hermann Levi. Schlussendlich gelang ihm mit der Fertigstellung der 1. Sinfonie in der heute bekannten Fassung jedoch einerseits eine Hommage und andererseits eine eigene musikalische Schöpfung.
Herbert Blomstedt ist derzeit der älteste aktive Dirigent unserer Zeit. Im hohen Alter von 93 Jahren hat er alle 4 Sinfonien von Johannes Brahms in Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester Leipzig neu eingespielt. Aber warum ausgerechnet Brahms im Beethoven-Jahr? Die Frage danach erübrigt sich nach dem ersten Höreindruck. Ganz einfach, weil Herbert Blomstedt etwas zu sagen hat. Dies ist keine Verneigung vor dem Alter, sondern eine vor der Leistung eines Dirigenten, der die Musik liebt und der in der Lage ist, diese Liebe an sein Publikum weiterzugeben.
Schon im ersten Satz der von Blomstedt insgesamt vom Tempo her eher moderat dirigierten Sinfonie gelingt ihm ein Spannungsaufbau par excellence. Das Gewandhausorchester zelebriert einen epischen und dynamisch ausgewogenen Klangteppich, wie man ihn bisweilen selten in diesem Werk gehört hat. Damit reiht sich Herbert Blomstedt nahtlos in die Riege der hervorstechenden Brahms-Dirigenten ein.
Im zweiten Satz arbeitet er auf wunderbare Weise die Streicher heraus, das Andante sostenuto greift mühelos ineinander über und gleitet wie verschmolzen in den 3. Satz hinein. Das dramatische Finale dieser Sinfonie (unüberhörbar die Anspielung an Beethovens Götterfunken- Thema aus der 9.) mündet dann in ein pulsierendes und monumentales Klangspektakel.
Als Zugabe auf der gerade frisch beim Pentatone-Label erschienenen CD ist die „Tragische Ouvertüre“ (die nach Brahms eigener Meinung gar nicht so tragisch ist). Dieses eher düstere Werk war eine Art Gegenpol zur heiteren „Akademischen Festouvertüre“ und weitaus weniger erfolgreich als die letztgenannte. Eigentlich völlig zu Unrecht, zumindest, was die einnehmende und aussagekräftige Interpretation von Herbert Blomstedt betrifft. Auch hier ist „jede Note voll von Sinn, der uns weiterträgt“, so der Dirigent über seine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester. Trotz aller „Tragik“ macht es einfach Spaß, sich diese Aufnahme anzuhören.
Der Auftakt zum Brahms-Zyklus ist Herbert Blomstedt mit dem Gewandhausorchester definitiv gelungen und uneingeschränkt empfehlenswert. Zwar ist sein Stil eher traditionell ausgerichtet, aber die Interpretation ist weitaus eloquenter als zum Beispiel die von Jukka-Pekka Saraste, nämlich voller Energie und Leben. Kurzum – sie macht neugierig auf die noch ausstehenden drei Werke.
Die Tonqualität der uns vorliegenden Aufnahme ist – wie bei Pentatone üblich – von allererster Güte. Der Bass verwöhnt tiefwarm und fühlbar die Ohren des Zuhörers, Mitten und Höhen sind gut ausbalanciert. Somit haben auch die Tontechniker hervorragende Arbeit geleistet. Ein informatives Booklet rundet den positiven Gesamteindruck ab. Lieben Sie Brahms? Falls ja, gehört diese Aufnahme unbedingt ins Archiv.