Mit innovativen Konzertformaten und ungewöhnlichen Spielorten ist das Hidalgo Festival nicht einfach ein weiteres Klassikfestival, sondern ein vielfältiges Event das im Hintergrund von einem interdisziplinären Team von Spezialist*innen geplant und durchgeführt wird. Die künstlerische Co-Leiterin Anne Keckeis gibt im Interview interessante Einblicke.
Anne Keckeis, seit seiner Gründung verbindet das Hidalgo Festival klassische Musik, Kunstlied, experimentelle Formate und ungewöhnliche Orte. Wie hat Ihr Team die Balance zwischen Traditionspflege und Innovation für das Festival 2025 entwickelt? Welche konkreten Kriterien sind Ihnen bei der Planung dieses Jahres besonders wichtig gewesen?
Bei der Festivalplanung spielen verschiedene Parameter eine Rolle. Zum einen haben wir ein tolles Kollektiv, das mit ordentlich Gehirnschmalz dafür sorgt, dass unser Festivalthema von verschiedensten Seiten beleuchtet wird. Unser diesjähriges Motto ist CLOSE CONTACT – das stiftet ja geradezu an, außergewöhnliche Begegnung mit dem Publikum zu suchen. Andererseits war uns in diesem Jahr besonders wichtig, uns direkt in München zu verwurzeln, etwa durch eine Kooperation mit der Musikhochschule München und durch eine mobile Installation im Vorfeld, die Erinnerungen und Geschichten der Münchner*innen gesammelt hat, die in eine Performance einfließen. In jedem Konzert gibt es eine zeitgenössische Komposition, und wir sind wieder sehr interdisziplinär.
Unter dem Motto „Close Contact“ will das Hidalgo Festival 2025 Nähe und Berührung zwischen Publikum, Künstler*innen, Raum und Klang erkunden, zum Beispiel mit performativen Konzertabenden und dem Format „Street Art Song“. Wie definieren Sie „Nähe“ in diesem Kontext – dramaturgisch, akustisch, räumlich? Welche Spannungsfelder wollen Sie ausloten zwischen Schutz und Grenzüberschreitung, Nähe und Distanz?
Nähe heißt bei uns: Teil der Performance zu sein. Wir wollen das Publikum ganz nah ranholen und mit reinnehmen – inhaltlich, räumlich und akustisch. In allen Formaten sitzen Sie wortwörtlich im Klang, dicht bei oder sogar zwischen den Musiker*innen. Sie haben also wenig Chance also, bei Close Contact aus der Ferne zuzuschauen. Bei unserem Format „Der Ewige Ton“(24.10.) wird es die wohl seit langem größte Masseninprovisation geben: Sie werden als Zuschauer*in Mitglied eines fiktiven Klang-Kults, können mitsingen und sogar auf eigenen Instrumenten spielen. Ganz anders gehen wir heran an das Format „Wildtrieb“: Darin loten wir musikalisch und mit einem Bewegungs- und Raumkonzept aus, welche unterschwelligen Spannungen in einer scheinbaren Idylle, dem Wald, herrschen können. Nach dem Konzert gibt es einen Perspektivwechsel und das künstlerische Erlebnis wird mit einem wissenschaftlichen Vortrag der Waldexpertin Martina Hudler ergänzt.
Das Hidalgo Festival spielt 2025 wieder an ungewöhnlichen Orten – auf Straßen, Plätzen, in Clubs oder offenen Räumen. Wie wählen Sie diese Orte konkret aus und wie beeinflusst der Raum die Gestaltung von Konzerten und Formaten? Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem der Ort einen besonders starken Einfluss auf die Begegnung zwischen Musik und Publikum hatte?
Wir sind davon überzeugt, dass „neue“ Räume und „alte“ Musik sich wahnsinnig bereichern. Die Tradition des klassischen Konzerts hat sich seit circa 100 Jahren kaum verändert. Ich denke, dass schon kleine Veränderungen große Änderungen in der Wahrnehmung triggern können. Unser Open-Air-Format „Street Art Song“ ist ein wunderbares Beispiel – wir alle kennen Straßenmusik, und doch ist der Überraschungseffekt groß, wenn da auf einem öffentlichen Platz ein richtiges Klavier steht und junge Sänger*innen mit ausgebildeter Stimme und Bühnenpräsenz die Aufmerksamkeit der Urbanität fordern. Das hält in Bann!

In diesem Jahr gibt es etwa Mini-Konzerte, performative Abende, neue Kompositionen sowie vokale und kammermusikalische Formate. Wie gelingt in der Praxis die Zusammenarbeit über Genre- und Disziplinengrenzen hinweg (z. B. mit Komponist*innen, Performeri*nnen, Raumgestaltung)? Wo sind die größten Herausforderungen, und wie überwinden Sie sie?
Unser HIDALGO-Kollektiv knackt genau diese Nüsse in Kooperation mit einem toll koordinierten Technik-Team. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingt nur mit Expert*innen auf verschiedenen Gebieten, die zusammen eine Vision finden und dann über Monate in vor allem digitaler Zusammenarbeit die Umsetzung entwickeln. Die verschiedenen Gewerke treffen sich dann eine Woche vor der Aufführung und verbringen eine sehr intensive Kreationsphase. Für uns bedeutet das: gut vordenken, gut mitdenken und flexibel bleiben. Entscheidend ist auf jeden Fall die künstlerische Freiheit.
Hidalgo richtet sich stark an junge Künstler*innen und bietet Plattformen wie Street Art Song. Wie definieren Sie „junge Klassik“ aktuell im Jahr 2025? Wie finden Sie die Künstler*innen, wie beteiligen Sie sie in Ihrer Planung, und wie möchten Sie ihre künstlerische Entwicklung über das Festival hinaus begleiten?
Was junge Künstler*innen bei uns erleben können, ist der Non-Konformismus. In unseren Produktionen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten sich einzubringen, von Konzept bis zu Choreografie. Elmar Hauser hat als Countertenor im letzten Jahr mit Pop und Rocksongs experimentiert, das Malion Quartett und Bella Adamova werden dieses Jahr mit der Choreografin Roberta Pisu zusammenarbeiten, und kleine szenische Elemente erarbeiten. Der Schlüssel hierzu ist natürlich die Neugier und die Flexibilität, die unsere Künstler*innen mitbringen. Und wenn sich Künstler*innen treffen, entstehen bei fruchtbarer Zusammenarbeit immer Netzwerke und Verbindungen. Für bestimmte Formate gibt es Ausschreibungen, und wir sind jedes Jahr begeistert von den vielen talentierten Lied-Duos, die sich bei uns bewerben.
Der Schwerpunkt bleibt das Kunstlied und vokale Musik quer durch Epochen und mit aktuellen Kompositionen. In welchen neuen Kontexten bzw. mit welchen modernen Bezügen möchten Sie das Lied 2025 weiterentwickeln? Welche Rolle spielen etwa Elemente aus aktuellen Genres oder performative Aspekte?
Noch mehr als die Weiterentwicklung des Lieds liegt uns die Kontextualisierung am Herzen. Dieses Jahr haben wir zum Beispiel Lied in Kombination mit Saxophonorchester. Ohne, dass die Intimität verloren geht, entsteht eine völlig neue Klanglichkeit. Jay Schwatz fügt der Schubert´schen Winterreise neu komponierte Interpretationen hinzu (21.10.). Und in Formaten wie „Wildtrieb“ (17.10. und 18.10.) steht die Doppelmoral einiger romantischer Lieder im Fokus, betont durch choreografierte Momente.
In 2025 wird mit Formaten wie Street Art Song versucht, Menschen und Musik „dorthin zu bringen, wo sie sich sonst womöglich nie begegnen“. Wie gestalten Sie Begegnungen mit Publikum, das bislang wenig mit klassischer Musik zu tun hatte? Welche strategischen Maßnahmen setzen Sie ein (z. B. Preisgestaltung, Kommunikation, Zugänglichkeit, Ortswahl)?
Wir möchten ermutigen, zu teilen. So kann Kultur weiterleben. Teilen bedeutet, Input zu geben und zu bekommen. Als Beispiel: Die Performance „Zeitenräume“ (19.10. und 20.10.) wird aus Geschichten und Erinnerungen von Münchner*innen gesponnen. Wir kooperieren dabei mit der Münchner Musikochschule –Hanni Liang hat dafür mit Studierenden zum Thema Empathie geforscht. Die Studierenden geben Eigenes mit in die Performance und bekommen durch die Zusammenarbeit mit unseren Artists Einblicke in choreografische und szenische Arbeitsweisen. Grundsätzlich ist uns das ein ganz zentrales Anliegen, auch unserem Publikum auf Augenhöe zu begegnen. Über Einführungen und lockere Gespräche an der Bar kommen wir zusammen – und wir achten auf eine bunte Mischung. Das gelingt uns durch eine zeitgemäße Sprache, und auch durch ermäßigte Preise für junge und bedürftige Leute oder soziale Freikarten. Und wir haben in den vergangenen Jahren mit der Werkstatt eine tolle neue Sparte aufgebaut – mit unseren Artists gehen wir jetzt neben dem Festival auch in Schulen und geben dort Workshops.
Hidalgo versteht sich als „Classical Music Start-Up“. Wie wirkt sich diese Haltung konkret in der täglichen Organisation, beim Marketing, beim Sponsoring und in der Finanzierung des Festivals aus? Wo sehen Sie die größten Chancen und Herausforderungen eines solchen Modells?
Wir finanzieren uns neben Ticketerlösen durch Förderungen der öffentlichen Hand, aber auch durch Stiftungen und private Geldgeber*innen. Die Produktionen, die wir beim Festival erstmal aufführen, können wir dann im besten Fall bei anderen Festivals und Veranstaltern zeigen. Es ist tatsächlich eine große Herausforderung, jedes Jahr wieder ein tolles Programm zusammenzustellen, und dieses auch zu finanzieren.
Das Programm des Hidalgo Festival 2025 enthält sowohl Werke aus vergangener Musikgeschichte als auch Neukompositionen, sowie kammermusikalische, vokale und instrumentale Werke. Wie stellen Sie das Verhältnis her zwischen Bewährtem und Neuem? Welche Rolle spielen Auftragswerke? Wie stellen Sie sicher, dass neue Kompositionen für das Festival eine lebendige Rolle spielen?
Bei CLOSE CONTACT haben wir in jedem Konzert mindestens eine zeitgenössische Komposition, von komponierter Interpretation über Auftragswerk bis hin zum Streichquartett. Letztes Jahr hatten wir auch Songs von Radiohead und Billie Eilish dabei. Dem Genre sind also keine Grenzen gesetzt. Dieses Jahr habe. wir außerdem viel Improvisation im Programm, und das ist ja die vielleicht direkteste und lebendigste Begegnung mit dem Publikum und unter Musiker*innen.

Als Dramaturgin und Cellistin sind Sie selbst künstlerisch aktiv. Wie beeinflusst Ihre eigene künstlerische Praxis Ihre Arbeit als Leiterin von Festivals bzw. Dramaturgin? Gibt es Konflikte, wenn man als Künstlerin und zugleich Programmgestalterin denkt?
Das Denken ist nicht das Problem. Ein Experiment auf die Bühne zu bringen, bedeutet meistens, nicht die bewährten Schritte zu gehen, sondern einen neuen Weg zu finden, das ist die Herausforderung. Als Cellistin liebe ich interdisziplinäre Herausforderung, sei es das Erobern von neuen Genres oder anspruchsvolle Choreografien. Ich empfinde das als große Bereicherung für mein Tun. Natürlich darf die musikalische Qualität nicht leiden. Hier neue Praxis-Standards zu setzen, erfordert einfach Zeit. Geduldig (und gut gelaunt) zu bleiben und auf den Prozess zu vertrauen betrachte ich als Herausforderung.
Wenn Sie auf die nächsten fünf Jahre schauen: Wie möchten Sie das HIDALGO Festival weiterentwickeln? Gibt es Pläne für internationale Kooperationen, Weiterentwicklungen von Formaten wie Mini-Konzerte oder Street Art Song, neue Orte, neue Zielgruppen oder technologische Innovationen, die Sie künftig einbinden wollen?
Die Zukunft von HIDALGO ist voll von Visionen, Neugier und Abenteuerlust. Es gibt viele Ideen zu spannenden internationalen Kooperationen, den Wunsch sich innerhalb Münchens noch weiter zu vernetzen und aufregende Werkstatt-Projekte. Unser Ziel ist weiterhin, viele Menschen künstlerisch miteinzubinden und mit HIDALGO eine Plattform für Kreativität, Qualität und experimentellen Austausch in München zu halten. Auf zu unkalkulierbaren Abenteuern mit kalkulierbareren Finanzen!
Anne Keckeis, vielen Dank für dieses Interview!
Anne Keckeis ist seit 2024 gemeinsam mit dem Dirigenten und Komponisten Gregor. A. Mayrhofer Künstlerische Co-Leiterin des Münchner HIDALGO Festivals. Die österreichische Cellistin, geboren 1994, ist in sämtlichen musikalischen Feldern aktiv. Sie studierte in Salzburg und Stuttgart und war Akademistin der Münchner Philharmoniker. Insbesondere mit dem accio piano trio widmet sie sich der Kammermusik. Als Konzertdramaturgin und Mitgründerin des interdisziplinären HIDALGO Kollektivs setzt sie einen Schwerpunkt
Titelfoto © Benjamin Ganzenmüller


