Unterm Sonnenschirm sitzend, an einem wunderschönen Vintage-Weltempfänger drehend empfängt Blaise Ubaldini neue Signale aus fernen Galaxien. Sorgsam und mit Liebe hat Ubaldini dieses Coverbild für seine aktuelle CD „Sunbathing“ arrangiert. Neue Musik hat mit Neugier zu tun. Mit diesem unkonventionellen Gegenwartskomponisten ins Gespräch zu kommen, heißt, sich wieder – spielend leicht – aufs Philosophieren zu besinnen.
Können Sie eine Gebrauchsanweisung fürs Hören geben?
Gönnen Sie sich eine Pause holen Sie sich einen Tee. Machen Sie es sich gemütlich und schließen Sie Ihre Augen. Vergessen Sie alles um sich herum. Lassen Sie Ihre Fantasie frei. Fangen Sie an, mit den Klängen aktiv zu kommunizieren. Versuchen Sie nicht, zu analysieren. Fühlen Sie lieber.
Können Sie mir das Anliegen hinter dieser Musik beschreiben?
Ich wollte verschiedene Wahrnehmungsebenen kreieren – oder nennen wir es Verständnisebenen. Mein Anliegen ist es, eine Musik zu schaffen, die verstanden wird.
Erzählen Sie mir über die Geschichte des Projektes.
10 Jahre lang haben ich vor allem für Live-Konzerte gearbeitet und habe dabei auch die Begrenzungen kennengelernt, die damit verbunden sind. Das hört sich erst mal seltsam an. Eine Live Performance ist doch der Moment, wo du am direktesten Emotionen senden und empfangen kannst. Aber um etwas wirklich Nachhaltiges zu schaffen, braucht es sehr viel Aufwand. Es kann zum Beispiel passieren, dass alles zu neu und zu avantgardistisch wird und dann die
Überzeugungskraft auf der Strecke bleibt. Deswegen wollte ich jetzt eine Aufnahme machen.
Ich habe mich also auf einen gemeinsamen Schaffensprozess zwischen mir und den jeweiligen Solistinnen und Solisten besonnen. Ursprünglich wollte ich ein noch viel größeres Projekt daraus entstehen lassen und hatte vier CD-Aufnahmen geplant. Aber ich habe dann erst mal gedacht, ich fange klein an und werde damit auch für die Hörer viel zugänglicher. Da erwiesen sich Solostücke als das ideale Format. Auch die Kombination aus einem physischen Instrument und Elektronik würde viele Leute neugierig machen. Das heißt auch, dass ich dem Artwork ein sehr großes Gewicht eingeräumt habe. Ich will ja auch der ganzen Reflexion drumherum und dem Nachdenken über dieses Werk so viel Raum wie möglich einräumen.
Sie haben den Prozess ja auch schön durch mehrere Teaser-Videos über die einzelnen beteiligten Solisten visualisiert. Erzählen Sie mir etwas über die Menschen dahinter?
Mir war an Persönlichkeiten gelegen , die sich von den normalen Typen im Klassikbetrieb unterscheiden. Zum Beispiel Leila Ramezan, die im übrigen auch meine Frau ist. Die hat eine ganz spezielle Art und Weise, das Klavier zu spielen. Sie ist von der iranischen Musik-Tradition beeinflusst und hat eine sehr delikate Art, das Klavier zu spielen. Ich nehme hier sehr viel musikalische Energie wahr. Oder Shanna Pranaitis. Sie kommt aus Amerika und zeichnet sich durch eine sehr unkonventionelle Art im Umgang mit ihrem Instrument aus. An allen meinen mit MusikerInnen und mit Musikern mag ich hier, dass sie auf gewisse Weise so sind, wie ich. Ich meine damit auch deren Lebensphilosophie.
Erzählen Sie mir über den Aufnahme-Prozess! Wie gehen Live-Spiel und Elektronik zusammen?
Die Stücke sind für Live-Elektronik konzipiert. Die Musik ist notiert, aber es gibt drumherum recht viel Delay und andere Effekte. Die Idee ist, damit eine Art Kontrapunkt zu erzeugen. Wohlgemerkt wollte ich es mit der Live-Elektronik auch nicht übertreiben. Ich nehme erstmal die Instrumente ganz natürlich auf, ebenso Geräusche und andere akustische Vorgänge. Und dann arbeite ich damit weiter, um mehr in das Stück hinein zu geben. Die Geräusche und Sounds bekommen dieselbe Rolle wie die Instrumente. Mit all dem nähere ich mich immer mehr den Klängen an, die ich im Kopf höre.
Die Klänge wecken viele Assoziationen. Ist das Zufall oder Absicht?
Der Klang der Bassflöte hat durchaus etwas von Atem oder Wind. Ich mag den Wind sehr. Das Stück La Livri besteht ausschließlich aus Klaviersounds, aber aus Klängen von außerhalb und innerhalb des Klaviers. Das hat etwas mit Körperlichkeit zu tun, eben jener dieses ganzen Instruments. Wir haben sogar Lautsprecher in das Klavier eingefügt, damit es so wirkt als würde das Klavier mit sich selber spielen. Klänge von außerhalb und innerhalb des jeweiligen Instruments ziehen ins Innere hinein. Das kann auch mal ganz schön perkussiv abgehen, etwa bei Bassflöten-Spieler Jan van Hoecke.
Gibt es eine tiefere Botschaft in diesen Klangwelten?
Wir haben alle etwas tief in uns. Ich will jetzt nicht sagen, dass das ein Monster ist, aber es ist schon eine starke Kraft dahinter. Und dem sollten wir Gelegenheit geben, sich auszudrücken. Kunst kann uns immer wieder neu diese Möglichkeit geben, so etwas zum Ausdruck zu bringen.
Die Stücke fordern dazu heraus, verschiedene Wahrnehmungsebenen zu finden und sich dort hinein zu vertiefen. War das beabsichtigt?
Alle Elemente, die hier vorkommen, sind schon im Universum enthalten. Wir müssen sie nur aufnehmen, damit sie greifbar werden.
Warum haben Sie die CD „Sunbathing“ genannt?
Es ist ein Text von dem amerikanischen Dichter Kamau Daáood, der in meinem Titelstück für diese CD von der Sopranistin Liz Pearse gesungen wird. Dieses Stück unterstreicht mein Anliegen, dass in der Sache ja auch eine gewisse Melancholie stecken soll.
Ich denke gerade darüber nach, was Sie in den Linernotes geschrieben hast. Warum haben Sie Isaac Newton in ein Raumschiff gesetzt? Wie ergeht es dem Entdecker der Schwerkraft in der Schwerelosigkeit?
Isaac Newton hat über Gravitation und Kraft geschrieben. Ich sehe Newton als einen brillanten Geist aus der Vergangenheit. So wie wir von vielen Geistern und Menschen umgeben sind, die uns beeinflussen. Komponisten wie Mozart oder Schubert tun das ja auch. Zugleich müssen wir uns selber finden im Leben und verstehen, wer wir sind. Und warum wir hier auf dieser Erde sind ..
Erzählen Sie mir mehr über Ihre Arbeit und Ihren Werdegang im Allgemeinen.
Ich bin als 100prozentiger klassischer Musiker ausgebildet und lebe heute in Lausanne. Ich habe in Paris klassische Klarinette studiert. Aber das Konservatorium in Paris war mir auf die Dauer zu konservativ. Ich wollte mehr Vielfalt. Ich habe in verschiedenen Gruppen gespielt und auch in vielen Stilistiken von Jazz über afrikanische und indische Musik bis hin zum Rock und Pop.
Mich faszinieren auch Sprachen! Ich habe die indische Sprache studiert mit dem Schwerpunkt der Hindi-Sprache, was eine große Bereicherung war. Ich wollte einfach mal andere Dinge ausprobieren. Leila Ramezan, meine Partnerin, ist Pianistin und sie hat mich dann wieder darin bestärkt, wieder zur Klarinette greifen. Damals wohnten wir noch in Paris, aber wir haben uns dann einen anderen Lebensmittelpunkt gesucht, weil uns die urbane Dichte in Paris zu hektisch wurde. Lausanne empfinden wir als angenehmer. Hier habe ich auch erst richtig mit dem Komponieren angefangen. Ich bin dann auch mal zu weiteren Studien nach Genf gegangen.
Wann sind Sie mit dem Ensemble Intercontemporain und dem IRCAM, zwei der wichtigsten Institutionen für Neue Musik in Frankreich in Berührung gekommen?
Ich bin nochmal nach Paris gegangen, um am Ircam zu studieren. Danach habe ich mich dem Ensemble Intercontemporain angeschlossen.
Kann man das IRCAM mit dem Studio für elektronische Musik in Köln von Karl-Heinz Stockhausen vergleichen?
Man kann das durchaus vergleichen. Was Stockhausen in Köln war, ist Boulez in Frankreich. Er hat das IRCAM und das Ensemble Intercontemporain gleichzeitig kreiert. Mir kam entgegegen, dass man beim IRCAM speziell Live-Elektronik studieren kann. Ich bin dankbar, dass ich diese Möglichkeit dort hatte. Man muss sich bewerben und wird ausgewählt. Das Verfahren ist sehr anspruchsvoll und der Auswahlwettbewerb ist sehr hart. Wenn man dort angenommen wird, ist das eine Riesenchance. Man lernt neue Techniken und Programme und ist auf der Höhe der Zeit. Ebenso habe ich mit Solisten des „Ensemble Intercontemporain“ zusammengearbeitet.
Sind Sie manchmal auf Festivals präsent, wie z.B. in Donaueschingen?
Ich muss gestehen, dieser etablierte Festival-Zirkus ist mir viel zu akademisch. Ich möchte mich frei fühlen – das ist am allerwichtigsten. Ich fühle mich auf einem eigenen, individuellen Weg besser aufgehoben. Und ich möchte nicht so stark beeinflusst werden von allen möglichen und allem möglichen.
Eine solche Antwort habe ich erwartet – um nichts zu sagen sogar erhofft….
Ich bin ja für alles offen, auch für Jazz und Pop und ich mag auch improvisierte Musik. Schreiben, spielen und improvisieren von Musik ist für mich ein großes Ganzes.
Sehen Sie gar keinen Unterschied zwischen komponierter und improvisierter Musik?
Den sehe ich durchaus: Wenn ich Musik improvisiere, dann tue ich das in erster Linie für mich selber, weil ich es so mag. Wenn ich Musik schreibe, dann ist da eine Sache im Raum, die ist wichtiger als ich selber. Ich tue dann etwas, weil ich denke, es ist wichtig, dass ich es tue. Mit einer Komposition kann man in der Regel noch einen Schritt weitergehen als mit einer Improvisation.
Kaum eine Neue-Musik-CD hat so ein lustiges Coverdesign.
Ich habe dafür richtig Aufwand betrieben und alles mit sehr viel Geduld arrangiert. Ich habe extra dieses Radio gekauft und auch die Kleidung, die ich auf dem Foto trage, sorgsam ausgewählt.
Was für einen Sender empfangen Sie dort mit dem Radioapparat?
Signale empfangen und wieder aussenden – so empfinde ich das Musikmachen. In mir finden dafür die nötigen Transformationen statt.
Wenn mehr Menschen in der Lage wären, auf diese schöpferische Weise Signale zu empfangen und weiterzugeben – hätten wir dann eine besser Welt? Was meinen Sie?
Mit Sicherheit. Wer solche Prinzipien beherzigt, übernimmt Verantwortung für sein Handeln und Denken. Aber dafür musst du intelligent sein, was sehr viele Menschen nicht sind. Mit meiner Musik kann ich wenigstens symbolhaft andeuten, dass so etwas möglich ist. Jeder kann frei sein und jenseits ausgetretener Pfade unterwegs sein, wenn er es will. Und genau deswegen möchte ich diese Musik mit einem positiven Etikett versehen und habe dem Cover der CD ein fröhliches Motiv gegeben.
Blaise Ubaldini, vielen Dank für dieses Interview!
Titelfoto © Estelle Vidon Acolas