Einfach Klassik.

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Interview mit der Geigerin und Komponistin Agata-Maria Raatz

Alleine nur mit ihrer Geige zu musizieren, das hat für Agata-Maria Raatz etwas von Meditation und Selbstfindung, die stark macht gegen die Reizüberflutungen des Alltagsdaseins. Als sie ihr neues Soloalbum aufnahm, fühlte sie sich inspiriert von der Aura einer historischen Kirche hoch über dem Thuner See- für sie ein echter Kraft-Ort. Stefan Pieper traf die in Polen geborene Musikerin und Komponistin im traditionsreichen Casino Bern. Viele Berühmtheiten des Musiklebens ließen sich vom glanzvollen Ambiente dieser Örtlichkeit inspirieren ließen…

Erzählen Sie mir über die Vorgeschichte zu diesem Projekt! 

Ich wollte etwas kreieren, das über das, was wir sonst in Konzerten hören, hinaus geht. Es stecken insgesamt drei Jahre Arbeit in diesem Projekt drin und es war eine spannende Erfahrung für mich. Ich habe mich auf Entdeckungsreise begeben, viel gelesen und geforscht. Dazu gehörte auch ein Austausch mit Experten, die sich auf Barockvioline spezialisiert haben. 

Violine solo beansprucht ein Alleinstellungsmerkmal in Konzertprogrammen und auch bei Aufnahmen.

Meist gibt es Konzerte mit Violine plus Klavier oder in Kammerbesetzungen. Eine einzige unbegleitete Violine ist für Interpreten und Publikum eine Herausforderung. Beide Seiten müssen schon einiges mitbringen.

Wie ist die Gewichtung zwischen solistischem Spielen und Kammermusik bei Ihnen? Wie verhält es sich speziell in ihrem Jaz Duo zusammen mit dem Pianisten Marcin Fleszar? 

Rein spielerisch betrachtet sind diese Welten nicht voneinander getrennt. Wenn wir im Duo spielen, sind wir beide ja auch Solisten. Andererseits: Wenn ich Bach solo spiele, gestalte ich die verschiedenen Stimmen so wie in einem Kammermusikensemble.

Gehört die Befreiung von üblichen Hörgewöhnheiten zu Ihrem Anliegen?

Ein Solokonzert spielen ist wie eine Meditation. Wenn ich ein Konzert alleine mit der Geige spiele, dann liegt die Herausforderung darin, die übersättigten Sinne der Menschen erst mal zu erreichen damit. Ich selbst muss mich als Interpretierende ja auch erst dafür öffnen und diese tiefe Ruhe in mir selber finden. 

Ihr Spiel mutet gleichermaßen sehr aufgeklärt-zeitgenössisch an, wie auch so manch historisch-informierter Wesenszug auffallend hervor tritt. Wie sehen Sie das?

Das ist ein riesengroßes Thema. Es gibt ausführliche Diskussionen, ob man diese Werke etwa mit Barockbogen spielen soll oder nicht. Überall gibt es Befürworter und Gegner. Ich halte das alles für Spekulation, denn es gibt ja schließlich keine Aufnahmen, wie es damals wirklich geklungen hat. Wenn ich mir ältere Aufnahmen anhöre, schätze ich sehr, was verschiedene Interpreten alles geleistet haben. Was mich hier oft beeindruckt, ist die Tatsache, dass deren Interpretationen meist sehr gut und treffend die Struktur erfasst haben. Heutzutage wird oft sehr intuitiv gespielt, wodurch oft das Verständnis für den Aufbau eines Stückes etwas vernebelt wird. Ich finde, dass es einen Sinn für Objektivität braucht. 

Welche Objektivität meinen Sie?

Ich glaube mittlerweile, ich habe meine persönliche Interpretation gefunden. Bei Bach ist die Struktur doch die Hauptsache. Da ich auch selbst Komponistin bin, hat sich mein Blick für Struktur und harmonischen Aufbau geschärft. Erst dann bist Du in der Lage, selbst noch etwas hinein zu geben. Natürlich spiele ich bei Bach eigene Sachen. Einige Musiker fügen Ornamente wie Triller hinzu, aber mir ging es darum, dass jeder dies auf seine eigene Weise tun kann. Ich baue zum Beispiel Triller ein. So etwas war in der Barockzeit sogar erwünscht. Das haben viele Interpreten der Vergangenheit nicht gemacht, worin ich ein Versäumnis sehe. 

Agata-Maria Raatz
Agata-Maria Raatz

In welcher Atmosphäre fand die Aufnahme statt? 

Aufgenommen wurde in der wunderschönen Kirche Blumenstein hoch über der Schweizer Stadt Thun. Die Akustik ist sehr interessant. Dieser Ort in den Schweizer Bergen ist ein echter Kraft-Ort. Neben der Kirche gibt es einen großen Wasserfall. Die Atmosphäre ist einfach fantastisch. Man sieht die hohen Berge. Johannes Brahms selbst war hier oft präsent und hat hier seine Zweite Violinsonate in A Dur komponiert. Er hat also die selben Berge gesehen wie ich. Zwischen den Aufnahmen konnte ich immer draußen die Natur genießen, die Stille und den Wasserfall hören. Solche Bedingungen tun gut, um die Ruhe im eigenen Spiel wieder zu finden. Ich glaube, viele Menschen können heute solche Zustände gar nicht mehr erreichen wegen der ganzen Reizüberflutung, von der alle so abhängig geworden sind. In die Natur zu gehen, kann wie eine heilende Meditation wirken. Eigentlich braucht man nicht viel, wenn man in sich selbst alles hat.

Das ist ein schöner programmatischer Satz. Würden Sie ihn auf Ihre Musik und die künstlerische Haltung dahinter übertragen? 

Auf jeden Fall. Eine Geige hat nur vier Seiten. Das sind eigentlich minimale Mittel, aber damit lässt sich eine genauso tiefe emotionale Intensität erreichen wie in einer Sinfonie, Oper oder auch in einem großen Chorwerk von Bach, bei dem manchmal über 100 Menschen mitmachen. Beides hat dasselbe emotionale Gewicht. 

Haben Sie schon oft reine Solo-Konzerte gespielt?

Ja, schon sehr oft. Und auch oft mit Bach. Gerne möchte ich mal alle Partiten und Sonaten von Bach in einem Konzert spielen.

Wann meinen Sie, ist es so weit?

Im Moment bin ich sehr ausgebucht. Realistisch betrachtet wird es vielleicht in zwei Jahren mal soweit sein. Es ist eine Herausforderung, die auch ein spezielles Publikum braucht. Ich muss sagen, über Bach gibt es verschiedene Meinungen. Viele Menschen lieben Bach, andere verstehen ihn nicht. 

Setzen Sie sich mit Erwartungen des Publikums auseinander?

Man darf sich auch nicht zu viel von Erwartungen des Publikums beherrschen lassen. Im Gegenteil, als Künstler musst Du voran gehen und das Niveau hochhalten. Sich immer anzubiedern ist so ähnlich, wie wenn Du deine Kinder nur mit ungesundem Fast food ernährst und sie dran gewöhnst. 

Die ganze mediale Unterhaltungsindustrie leistet hier leider ganze Arbeit. Es ist sehr schwer, der Konditionierung durch den Mainstream auszuweichen von klein auf.

Ja klar, wo alles nur um Geld geht. Hier muss sich dringend wieder etwas zum Positiven ändern. Eben, damit Kinder von Anfang an lernen, klüger zu werden und nicht schon von Anfang an intellektuell stagnieren. Ich habe das Gefühl, bewusst nachdenken wird auch immer mehr abtrainiert.

Was sind Ihre Wunschvorstellungen, wo Sie gerne noch hin möchten? 

Ich arbeite mental daran, dass ich einfach zufrieden bin mit dem, was ich habe. Damit ich einfach glücklich bin dort, wo ich bin und mit dem, was ich mache. Ich möchte gar nicht von einem Erfolg zum nächsten rennen, sondern versuche eher, die Reise in mich selbst anzutreten. Wenn ich überlastet und müde bin, kann ich nichts Gutes erschaffen. Wenn ich mich erholen und in der Natur sein kann, kommen auch wieder gute Inspirationen. Die Balance in mir zu finden ist die Hauptsache. Das ist es, was ich als Künstlerin und als Mensch am liebsten möchte. Ich habe mich nie alleine auf meine Karriere reduzieren wollen. Ich versuche immer, selbst eine tiefe Wahrheit zu finden. Vielleicht wäre ich heute schon weiter, wenn ich mehr Kompromisse gemacht hätte. Wer weiß das schon? Aber ich wollte das nicht, denn es gibt noch andere wichtige Dinge im Leben. Es geht immer darum, eine Balance zu finden. 

Ich glaube trotzdem, das Sie schon hart gearbeitet haben und bestimmte Kompromisse gemacht haben. 

Natürlich. Ich habe als Kind angefangen und die vergleichsweise strenge osteuropäische Schule durchlaufen. Das war eine sehr gute Ausbildung von Grund auf. Auch, wenn das viele Leute heute kritisieren. Geholfen hat mir, dass ich immer schon wahnsinnig gerne Geige gespielt habe. Das half mir, mich für Musik auf eine andere Weise zu begeistern als nur für ihre Schönheit.

Meine Mutter wollte mich oft sogar schon bremsen in meinem Drang, ständig zu spielen und noch mehr zu üben. 

Kommen Sie aus dieser sprichwörtlichen musikalischen Familie?

Ja (lacht). Mein Vater ist Profi-Musiker. Aber ich bin mit vielen Menschen aufgewachsen , die nichts mit Musik zu tun haben. Trotzdem habe ich von meinem Vater viel gelernt. Auch mein Großvater war Geiger und der hat auch ein gutes pädagogisches Talent gehabt und die gute alte Schule vertreten.

Was macht die gute alte Schule aus?

Man betrachtet das Kind nicht als etwas, das dumm ist und deswegen nicht gefordert werden braucht. Die alte, gute Schule meint für mich, ein großes Vertrauen dahinein zu haben, dass Kinder wirklich intelligent sind. Heute habe ich den Eindruck, dass aus solch einem Irrglauben viel Unterforderung hervor geht. Das schließt nicht aus, auch spielerisch an die Sache heran zu gehen. Die alte Schule bedeutet für mich eine gleichmäßige Entwicklung des intellektuellen Potenzials in Verbindung mit dem Verständnis der Dinge. Das schließt jedoch nicht aus, dass Wissen auf einfache, verständliche und angenehme Weise vermittelt wird.

Hat die Musik Sie auf spielerische Weise gefunden?

Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass irgend etwas unter Druck geschehen ist bei mir. Das Noten lernen erfolgte spielerisch, aber davon abgesehen habe ich zum großen Teil immer nach Gehör gespielt.

Wie ging es später weiter?

Meine Begabung war schon früh bemerkt worden und ich habe auch Wettbewerbe gewonnen. Aber ich hatte noch nicht das Gefühl, dass ich wirklich das ausdrücken kann, was ich verspüre. Meine Technik reichte noch nicht dafür. Also suchte ich neue Wege, auf mein bis dahin Erlerntes aufzubauen. Dann habe ich Maxime Tholance kennengelernt. Er war Konzertmeister in der Opera Bastille in Paris und ist ein genialer Geiger. Bei ihm habe ich das gelernt, was ich noch suchte. Von dem Moment an hatte ich das Gefühl, jetzt kann ich mich frei ausdrücken. Ich finde, Musik muss schon auf hohem Niveau gespielt werden, damit überhaupt ihre Qualität zum Vorschein kommt.

Würden Sie sagen, dass Sie bewusst eine Karriere aufgebaut haben? 

Die Karriere hat mich eigentlich nie interessiert, aber ich wollte einfach von den Besten lernen. Niveau war natürlich umso mehr mein Anliegen. Am besten ist es, wenn man beides gleichzeitig entwickelt. Idealerweise kümmern sich die Eltern um den Karriereteil, damit das Kind ganz sein Niveau weiterentwickeln kann. 

Agata-MAria Rate Cover

Jetzt mal zum Repertoire auf dieser Aufnahme! Warum haben Sie die Musik Johann Sebastian Bachs ins Zentrum gerückt?

Ich möchte zeigen: Bach war auch einfach ein Mensch, der von anderen beeinflusst wurde und wiederum andere Komponisten geprägt hat. Also ist hier der Komponist Jean Paul von Westhoff als Vorläufer Bachs ins Spiel gekommen und ich habe seine Suite Nr. 5 d-Moll für dieses Programm ausgewählt. Von den sechs Suiten Westhoffs hatte ich vorher nie etwas gehört, denn sie gehören nicht zum üblichen Violinrepertoire. 

Also würden Sie Jean Paul Westhoff als Vorläufer von Bach bezeichnen?

Bach und Westhoff haben sich vermutlich in Weimar kennengelernt. Bach hat daraufhin alle sechs Suiten Westhoffs studiert, bevor er seine berühmten „Drei Partiten und Sonaten“ geschrieben hat. Es ist bezeichnend, dass diese Werkgruppe auch sechs Stücke umfasst. Die Zahl Sechs hat immer etwas mystisches. 

Ich sehe die Bach-Stücke wie einen Baum, der aus einem Nährboden erwächst, sich dann aber auch bis in die musikalische Gegenwart hinein verästelt. Wollten Sie solche Verbindungslinien deutlich machen?

Ja, absolut – das ist ein sehr schöner Vergleich. Die drei Partiten und Sonaten sind wie eine Bibel. Wenn man wirklich studiert, wie sie aufgebaut sind, lernt man etwas ganz Grundlegendes. Und das wiederum nährt das Verständnis für die zweite Sonate von Eugene Ysaye, die ich als Finale für dieses Programm ausgewählt habe. Ysaye hat Bach tief studiert, was hier durch mehrere Zitate aus Bachs E-Dur Partita deutlich wird und für mich daher das beste Finale für diese CD war. Ich würde diese ganzen Zusammenhänge vor allem mit Architektur vergleichen. Man kann sich von Strukturen aus der Vergangenheit inspirieren lassen, nutzt aber heute ein anderes Material. 

Wie verhält es sich beim neuen Stück von Xavier Dayer? 

Xavier hat Dayer hat mir das Stück „Cette âme a six ailes tout comme les Séraphins“ (Diese Seele hat sechs Flügel wie die Seraphim) gewidmet. Ich hatte ihm erzählt, dass ich ein Projekt über Bach in Arbeit habe. Als wir über das Stück gesprochen haben, das entstehen soll, habe ich ihn zu maximaler Freiheit ermutigt, mir aber trotzdem gewünscht, dass Bach als primäre Inspirationsquelle bleibt. Daher hat er sich hier in erster Linie auf die Chaconne von Bach bezogen. Aber dann kam eine zweite Ebene hinzu: Xavier Dahier bezieht sich hier musikalisch und auch philosophisch auf die Autorin Margaret Marguerite Porrete. Das ist eine sehr interessante Frau, die im 14. Jahrhundert als Feministin in Erscheinung trat und im Jahr 1310 als Häretikerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sowohl in den Texten, als auch in Dayers Musik widerspiegeln sich extreme Emotionen. Ich kann mich hier wirklich ausdrücken und alles aus der Geige herausholen. Er hat das wirklich genial hinbekommen und es ist für mich ein großes Geschenk. 

Schließlich ist auch Ihre Singstimme zu hören und eine Ihrer drei Eigenkomposition auf diesem Album heißt „Vergissmeinnicht“. Erzählen Sie mir mehr darüber! 

Das Stück „Vergissmeinnicht“ hat zwei verschiedene Ebenen. Auch hier sind gewisse Elemente von Bach inspiriert. Eine weitere Ebene resultiert aus einer Geschichte aus einem polnischen Buch, die mich sehr tief berührt hat. Ein Kapitel daraus ist meinem Großvater gewidmet. Mein Großvater hat ein Konzentrationslager überlebt, zusammen mit seinem Bruder. In diesem Buch wird alles beschrieben, was sie durchgemacht haben. Es war eine sehr bewegende Erfahrung für mich, das alles zu lesen und ich verspürte einen jähen Impuls, meine Emotionen kompositorisch zu verarbeiten. 

Dann kann ich mir schon vorstellen, warum Sie das Stück so betitelt haben. 

„Vergissmeinnicht“ ist im übrigen auch meine Lieblingsblume. Natürlich geht es darum, dass wir so etwas nie wieder zulassen dürfen. Ich sehe dieses Stück auch als einen kleinen imaginären Film zum Hören, der erzählt, wie mein Großvater und sein Bruder aus dem Todesmarsch ausgebrochen und geflohen sind. Noch eine dritte Person hat überlebt dabei, übrigens ein Opernsänger. Es ist ein reiner Zufall, dass gerade diese drei überlebt haben. Man muss sich vorstellen, dass mein Großvater selbst nur ca 30 kg wog und alle anderen waren in denselbem Zustand. Ich spiele bei diesem Stück übrigens auch die Geige, die meinem Großvater gehörte. Natürlich hat es etwas symbolisches, wenn ich dieses Instrument hier zum Klingen und Leben bringen möchte.

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Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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