Einfach Klassik.

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Interview mit der Pianistin Aliya Turetayeva

Aliya Turetayeva, die 1986 in Almaty, Kasachstan, geboren wurde, teilt in ihrem neuen Album „Credo“ ihre tiefe Verbindung zur Musik von Johann Sebastian Bach. Seit ihrer Kindheit prägt Bach ihr künstlerisches Lebenswerk, und seine Werke sind für sie ein lebenslanger Begleiter. In diesem Interview spricht die Pianistin über die innere Kraft von Bachs Musik und wie sie ihr in Zeiten von Glück und Trauer Trost spendet. Die CD vereint meisterhafte Klavierwerke von Bach, Schubert und Schumann – im Gespräch mit Stefan Pieper machte Aliya Turetayeva deutlich, dass Musik vor allem eine Quelle der inneren Stärke für sie ist. 

Aliya Turetayeva, gleich mehrere Bach-Werke eröffnen Ihre neue CD. Warum haben Sie sich für diesen Schwerpunkt entschieden? Was macht diese Werke für Sie so einzigartig?

Die Choralvorspiele von Bach, besonders „Ich rufe zu dir, Herr Jesu Christ“ BWV 639 und „Nun komm, der Heiden Heiland“ BWV 659, aber auch die Busonis Transkription von der Chaconne aus der Partita Nr. 2 in d-Moll, BWV 1004, gehören zu den Kompositionen, die mir sehr nah sind und mir sehr am Herzen liegen. Sie sind mir nicht nur musikalisch wichtig, sondern auch sehr tiefgründig. Bach komponierte die Musik, die nicht nur den Verstand anspricht, sondern wirklich die Seele berührt. Ich bin in Kasachstan aufgewachsen, ohne jeglichen Kontakt zur Religion. Als ich Bachs Werke erstmals gehört habe, spürte ich sofort die Verbindung zur geistigen Welt. Für mich ist seine Musik wie eine Brücke zu etwas Höherem, zum Ewigem. Besonders der Choral „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ fühlt sich für mich wie ein Gebet an, das mich über viele Jahre begleitet hat. In Zeiten von Unsicherheit und Trauer hat mir dieses Stück immer wieder Kraft gegeben. Durch die Musik kommt es zum inneren Gespräch mit Gott. Auch die Chaconne ist ein wichtiges Stück für mich. Die Vermutung, dass Bach dieses Stück vielleicht für seine erste Frau Maria Barbara geschrieben hat, nachdem sie gestorben war, berührt mich sehr. Die Musik geht auf eine tiefgehende, universelle Weise mit Verlust und Erinnerung um.

Wie begann Ihre pianistische Erkundung dieser Werke?

Die „Chaconne“ kannte ich schon länger, noch aus den Studienzeiten, die zwei Choralvorspiele, also „Nun Komm, der Heiden Heiland“ und „Ich rufe zu dir, Herr Jesu Christ“, kenne ich von den Aufnahmen von Vladimir Horowitz. Als junge Pianistin war ich von den Aufnahmen von Vladimir Horowitz fasziniert. Seine Interpretation dieser Choräle hat mich sehr geprägt.

War es ein gewisser innerer Prozess, von der Bewunderung eines Idols zu einer tieferen musikalischen Auseinandersetzung mit der Essenz von Bach zu kommen?

Auf jeden Fall. Als junge Pianistin ist man natürlich von den großen Meisterpianisten und deren virtuosen Fähigkeiten beeindruckt. Horowitz war immer ein großes Vorbild für mich und ich habe viele Aufnahmen von ihm gehört. Ich war nicht nur von seiner Virtuosität sehr angezogen, sondern auch von seiner Fähigkeit, eine persönliche Note in das eigene Spiel einbringen zu können. Im Laufe der Jahre, wenn ich beide Choralvorspiele näher kennengelernt habe, bin ich zu deren Ursprung gekommen, nämlich zum lutherischen Kirchenlied der Reformationszeitbei „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ und zum lateinischen Hymnus „Veni redemptor gentium“ des Ambrosius von Mailand (339–397) bei „Nun Komm, der Heiden Heiland“. Die innere Tiefe dieser Musik in den Transkriptionen von Bach und auch in der romantisierten Transkription von Busoni offenbarte mir erst mit Jahren und es war eine schöne Entdeckungsreise, die mich zu der geistigen Dimension dieser Werke führte. 

Was begeistert Sie an der Chaconne von Bach?

Die Chaconne von Bach ist für mich das Meisterwerk der unglaublichen Meisterschaft, die Bach in diesem Stück auf so eine unglaubliche Weise umgesetzt hat. Diese Musik ist geprägt von Trauer und Glück, vom Verlust und Hoffnung, es entfalten sich auch viele weitere emotionelle und ausdrucksvolle Momente innerhalb des Stückes, genauso wie es im Leben der Fall ist. 

Die Chaconne ist nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern auch von einer existenziellen Schwere, die es mir ermöglicht, mich tief mit dem Werk zu verbinden. Es gibt etwas Universelles an dieser Musik – ein Dialog mit der menschlichen Erfahrung, den jeder Hörer auf seine eigene Weise nachvollziehen kann. Mich fasziniert immer wieder, wie Bach mit so wenigen Mitteln, da es ursprünglich für Violine solo komponiert wurde, so viel ausdrücken konnte.

Aliya Turetayeva, Foto © Kartin Maigut
Aliya Turetayeva, Foto © Karin Maigut

Bachs Chaconne wird manchmal als musikalischer „Grabstein“ für seine früh verstorbene erste Frau beschrieben. Was bedeutet dieses Stück für Sie?

Die Geschichte dahinter – dass Bach dieses Stück möglicherweise für seine erste Frau komponiert hat, als sie starb – ist für mich sehr bewegend. Hinter der Musik steht so viel emotionaler Ausdruck, der die menschliche Erfahrung von Verlust und Erinnerung auf eine so tiefgehende, universelle Weise behandelt. Auch dieses Werk spricht mich auf einer sehr menschlichen Ebene an. Sicher ist die Chaconne für jeden Musiker wichtig, nicht nur für Geiger und Pianisten – es gibt weitere Bearbeitungen, wie die Fassung für Orchester von Leopold Stokowski zum Beispiel. Die Chaconne beindruckt durch ihre Monumentalität, emotionelle Tiefe und wahre Meisterschaft. 

Sehen Sie eine Verbindung zwischen Ihrer persönlichen Geschichte und der Musik?

Jedes Stück, das ich spiele, ist ein Teil meiner eigenen Geschichte und meiner Auseinandersetzung mit der Welt. Während ich die Chaconne aufgenommen habe, erhielt ich die Nachricht, dass mein Pudel, der mir unglaublich nahestand, sofort eingeschläfert werden soll, da der Tumor geplatzt hat und der Krebs unheilbar war. Es war ein großer Schock und ein Moment der unerträglichen Trauer für mich, ich beeilte mich sofort, um von ihm Abschied zu nehmen. Dennoch musste ich in ein paar Tagen weiter aufnehmen, obwohl ich emotional völlig aufgewühlt war. Es war ein Moment großer innerer Zerrissenheit, aber gleichzeitig gab mir die Musik von Bach eine enorme Kraft. Ich konnte die Aufnahme nicht abbrechen, obwohl die Situation wirklich sehr schwer für mich war. Die Chaconne, die für mich schon vorher ein sehr bewegendes Stück war, bekam in diesem Moment eine noch tiefere Bedeutung. Es war fast, als könnte ich durch die Musik mit meinem Verlust und meiner Trauer sprechen. Die wahre Trauer und Tiefe dieser Musik wurde mir erst jetzt eröffnet und auch warf ich auf das Glauben daran, was nach dem Tod kommt und die Hoffnung dafür, einen komplett neuen Blick. Die Fragen, wer wir Menschen sind und was unsere Bestimmung hier sei, die Aspekte, die mir früher fernblieben, wurden auf einmal bedeutsam und wichtig. 

Ich finde, dass die Fassung von Busoni als Version für Pianisten einen ganz anderen Charakter hat als die Violinfassung. Wie ging Busoni vor, um Bach neu aufzubereiten?

Busonis Transkription wird oft als selbständiges Stück betrachtet, da es einerseits ein Meilenstein für Pianisten geworden ist, anderseits hört man in der Version von Busoni ein ganzes Orchester mit all seinen Registern, Klangfarben und Facetten. Ferruccio Busoni war ein italienischer Komponist, Dirigent, Pianist, Essayist, Musikpädagoge und Wahlberliner. Seine Bearbeitung der Chaconne ist unglaublich virtuos, da Busoni selbst herausragender Pianist war und auch gibt seine Version den Raum für die weiteren, neuen Interpretationen – Chaconne transformiert sich zu einer monumentalen Komposition mit unzähligen Klangfarben, orchestraler Fülle, Virtuosität, zu einem Werk, das alle Mittel des Flügels ausschöpft und bei dieser romantischen Fassung der Chaconne die Vollkommenheit und Tiefgründigkeit des Stückes am Klavier zum Ausdruck bringt. 

Wie kam es zur Entscheidung, auch Werke von Schumann und Schubert in das Programm aufzunehmen und was fasziniert Sie an deren Musik?

Schumann und Schubert gehören zu meinen Lieblingskomponisten und sind mir im künstlerischen Sinne sehr wichtig. Schubert bringt auf dieser CD in seiner Klaviersonate eine ganz andere Farbe ins Programm. Nach den dramatischen Ausbrüchen der „Chaconne“ strahlt jetzt eine heitere, frühlingshafte Musik eine neue friedliche Ruhe aus. Da ist so eine erfrischende Klarheit in der Musik, wie nach einem Sturm, wenn die Sonne wieder scheint. Diese Musik ist sehr gesanglich und Schubert hat eine besondere Beziehung zum Lied. Mein Professor an der Universität Mozarteum, Pavel Gililov, hat immer wieder wiederholt, dass man auf dem Klavier singen muss. In Schuberts Musik ist diese gesangliche Qualität sehr ausgeprägt. Auch die Entwicklung des Hammerklaviers zu Schuberts Zeit hat es ermöglicht, diese gesanglichen Elemente noch besser zu betonen.

Aliya Turetayeva, Foto © Kartin Maigut
Aliya Turetayeva, Foto © Karin Maigut

Was für Freiräume eröffnen sich dann in Schumanns Fantasiestücken?

Robert Schumann war einer des romantischsten Künstlers seiner Zeit. Seine Musik spiegelt die Welt des romantischen Künstlers wider – märchenhafte, sensible einerseits und stürmische und leidenschaftliche andererseits. Ihm gelingt es, mit kurzen, aber ausdrucksstarken Stücken eine unglaubliche Vielfalt an Emotionen zu schildern, von Verzweiflung und Kummer bis hin zu Liebe und Glück. Robert Schumann gehört eindeutig zu meinem Lieblingskomponist. Es war unmöglich seine Musik ins Album nicht einzunehmen, denn zu seinem Schaffen, wie auch zu Franz Schuberts Musik fühle ich mich emotionell sehr verbunden. „3 Fantasiestücke“ Op. 111 sind späte Klavierstücke von Schumann, die nicht zu oft gespielt werden, die aber unglaubliche, emotionell gefüllte und höchstsensitive Musik enthalten. Schumanns Welt ist geprägt von Fantasien und Märchen und gleichzeitig drückt seine Musik mit vollkommener Innigkeit die starken, wahren menschlichen Emotionen und Gefühle aus, die sich facettenreich in seinem Schaffen entfalten. Robert Schumann gehört unausweichlich zu meinem musikalischen Leben, deswegen ist dieser Komponist im Album mit dabei. 

Sie haben nun auch ein musikwissenschaftliches Studium begonnen. Wie beeinflusst das Ihre Herangehensweise an Musik und Ihre Interpretationen?

Das Studium ist ergänzend und es hilft mir sich musikhistorisch zu orientieren. Ich habe immer über die Jahre viel gelesen, was aber eher unsystematisch war. Ich lerne während des Studiums sehr viel. Es gibt generell viele Bereiche, die man forschen könnte und mit Sicherheit könnte ich eins für mich später aussuchen. Das Studium ist hilfreich, da man sich dann mit dem Hintergrund oder mit der Entstehungsgeschichte des Stückes besser auskennt und auch trägt das Studium zu den allgemeinen Kenntnissen viel bei. 

Erweitern die Erforschungen auch Ihr Rollenverständnis als Musikerin?

Ich mache noch keine eigenständigen Forschungen, sondern nur die, die zu den Seminararbeiten gehören. Momentan bin ich im Projekt „Kölner Musikgeschichten. Istanbul in Köln“ dabei und habe eine Arbeit über Louise Reichardt zu schreiben. Ich bleibe Pianistin und der musikwissenschaftliche Hintergrund hilft mir noch tiefer musikgeschichtlich die Werke einzuordnen und zu verstehen. Ich habe großartige Professoren, die sehr hilfsbereit und geduldig mit mir sind. Ich war immer neugierig nach neuen Kenntnissen und es ist wunderbar, besonders über die Werke, die man spielt, dazu zu lesen, zu forschen und viele weitere, neue Aspekte zu erfahren.

Also erschließen Sie sich auch am Instrument neue Horizonte?

Da mein Studiengang den Akzent auf die künstlerische Forschung setzt, wurde mir Cembalo- Unterricht angeboten und es war eine sehr schöne Entdeckung für mich. Ich war schon früher von der Musik von Jean-Philippe Rameau, Domenico Scarlatti, Georg Friedrich Händel und Michel Corrette und weiteren Komponisten des Barocks angezogen und es war eine Freude, die Werke von diesen Komponisten probieren auf dem Cembalo zu spielen. Ab und zu nehme ich den Cembalo-Unterricht bei dem wunderbaren und bedeutenden Cembalisten und Musiker seiner Zeit, Michael Borgstede und es macht mir Freude die Musik der Barockkomponisten für mich zu entdecken. Wenn man diese Kompositionen dann auf dem Flügel spielt, hat man einen ganz anderen Winkel auf die Stücke und es ist sehr wertvoll. 

Wann können wir uns auf Konzerte mit Ihnen freuen?

Ich habe ein CD-Präsentationskonzert im Pianosalon Christophori in Berlin, das am 25. März 2025 stattfindet. Außerdem sind Konzerte und Auftritte in Berlin, London und Cambridge geplant.

Aliya Turetayeva, vielen Dank für dieses Gespräch!

Titelfoto © Karin Maigut

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Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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