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Einfach Klassik.

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Interview mit der Pianistin Elena Margolina

„Seit dem 24. Februar fühlt sich alles so surreal an“


Die Konzertpianistin und Klavierprofessorin Elena Margolina engagiert sich für junge ukrainische Musikerinnen und Musiker und verarbeitet den Krieg auch künstlerisch…

Diese jungen Musikerinnen und Musiker im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, die gerade erst vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sind musizierten an diesem Abend die herausforderndsten Werke mit einer Intensität, als wenn es kein Morgen gebe und ja: Teilweise hatten sie während ihres Spiels an erlebte Momente aus dem Krieg gedacht, die jetzt zum Beispiel in die Dramatik von Sergej Rachmaninoffs „Etude Tableaux es-Moll“ oder Chopins Scherzo b-Moll einflossen. Eine Form der Verarbeitung bei diesem Benefizkonzert, welches kurzfristig auf dem Hof Bellevue im nordrhein-westfälischen Unna auf die Beine gestellt wurde? Der junge Pianist Mykhailo Aleinikov zuckt immer noch zusammen, wenn er ein startendes oder landendes Flugzeug vom benachbarten Dortmunder Flughafen hört. Geräusche von fauchenden Düsentriebwerken wecken düstere Assoziationen in diesen Tagen. Aber wieder vor Publikum zu spielen und mit der Musik eine humane, starke Antwort zu geben wirkt wie eine innere Befreiung für Anhelina Sheremeta, Mroslawa Cherkez, Inesa Bobrishova, Mykhailo Aleinikov und Anhelina Datseniuk.

Anhelina Sheremeta, Anhelina Datseniuk, Myroslava Cherkez, Mykahilo Aleinikov, Piotr Oczkowski, Elenena Margolina, Inesa Bobrhova, Boris Hait
Anhelina Sheremeta, Anhelina Datseniuk, Myroslava Cherkez, Mykahilo Aleinikov, Piotr Oczkowski, Elenena Margolina, Inesa Bobrishova, Boris Hait, Foto von Stefan Pieper

Einfach so weitermachen geht nicht

Elena Margolina wollte ihr aktuelles Programm von der neuen Schubert-CD im ukrainischen Lemberg/Lwiw spielen. Dann hörten sie und ihr Lebenspartner, der Palliativmediziner Boris Hait am 24. Februar im Winterurlaub die Nachrichten vom russischen Überfall. Einfach so weitermachen ging nicht – allein der vielen persönlichen und auch beruflichen Kontakte wegen, welche Elena Margolina und Boris Hait zu den Menschen in ihrer gemeinsamen Geburtsstadt pflegen.Viele Jugendliche sind ohne Eltern auf der Flucht vorm Krieg. Über Prag holten Elena Margolina und Boris Hait zwei Jugendliche ab, die seitdem in ihrem eigenen Haus in Unna wohnen. Aber das ist nur ein kleiner Teil in einem großen Netzwerk, was sich in kurzer Zeit unter vielen spontan Helfenden und mit Unterstützung vom Rotary- und Lionsclub ausbreitete. Noch mehr junge Ukrainerinnen und Ukrainer kamen auf diese Weise in Deutschland unter. Zugleich war Boris Hait an der Organisation von – bis jetzt – zwei Hilfstransporten beteiligt. Zahllose medizinische Güter und auch zwei Rettungsfahrzeuge konnten kurzfristig nach Lwiw/Lemberg gebracht werden. Die westukrainische Stadt platzt aktuell mit circa 3 Millionen (!) Flüchtenden aus allen Nähten.

Elena Margolina: „Putin erreicht das Gegenteil von dem, was er eigentlich möchte“

Viel zu reden und zu erzählen gibt es also an einem Abend im Haus der beiden zwei Wochen vor dem Benefizkonzert. Mit Tee und den unerreichbar leckeren, von Elena Margolina selbst zubereiteten Varenjiki (ukrainisch, polnische bzw. russische Teigtaschen) und getragen von viel menschlicher Wärme. Manchmal versagt auch die Sprache – eben weil so vieles, was gerade passiert, sprachlos macht: „Es tut weh, dass Russland nicht nur versucht, die Menschen zu töten, sondern die komplette Kultur und Geschichte zu verleugnen. Aber Putin erreicht hier genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich möchte“. Seit Kriegsbeginn wird die Ukraine als eigenständiger, freiheitshungriger Kulturraum wie nie zuvor von der Weltöffentlichkeit beachtet. Warum erst jetzt? Warum brauchte der Westen so lange dafür? Auch wenn die Pianistin und ihr Lebenspartner in sicherer Entfernung in Deutschland leben, so sind sie doch unmittelbar Betroffene. Der Krieg ist real im eigenen Leben angekommen, allein, weil viele menschliche Verbindungen zum Krieg, in dem täglich Menschen sterben, bestehen. „Wir telefonieren oft mit Freunden und Bekannten, welche gerade unter Bomben im Luftschutzkeller sitzen“. Die Gräueltaten von Butscha oder das Verschwindenlassen von Menschen durch russische „Evakuierungen“ kommen in den Erzählungen aus erster Hand ebenfalls vor.

Neue Kompliziertheiten und Unsicherheit

Ist die Kultur zu schwach, um Zivilisationsbrüchen, wie sie jetzt ihren Lauf nehmen, vorzubeugen?
Ausgiebig diskutieren wir an diesem langen Abend die historischen, politischen Voraussetzungen. Nein, vom Himmel fällt das alles nicht. Elena Margolina blickt mit Sorge auf die Zukunft, auch in ihrem beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld kaputt: „Mich erschreckt, was jeden Tag auf Facebook zu lesen ist. Gerade unter jungen Menschen verselbständigen sich neue Überempfindlichkeiten und Kompliziertheiten.“ Das bekomme sie auch unter der internationalen Studierendenschaft an der Detmolder Musikhochschule mit. Aber zugleich wird auch mit viel Energie und gegenseitigem Verständnis im Umgang solchen Tendenzen entgegen gewirkt.

Inesa Bobrishova, Mykhailo Aleinikov
Inesa Bobrishova, Mykhailo Aleinikov, Foto von Stefan Pieper

Früher waren doch alle miteinander verbunden: „Jetzt müssen wir erleben,wie sich die Kinder unserer einstigen Freunde in diesem Krieg gegenseitig umbringen“. Auf die Frage, was Musik in dieser Zeit vermag, hatte Elena Margolina in unserem Gespräch nicht weiterreden können. Alles Erhabene und Schöne fühlt sich auf jeden Fall sehr surreal an im Moment. Zumal es jetzt nur noch eins gibt, worauf es ankomme: „Dass wir und unsere Kinder dies überleben.“

Letztlich geht es um künstlerische Qualität

Die jungen Künstlerinnen und Künstler, die beim Benefizkonzert in Unna zu erleben waren, studierten vor Kriegsbeginn an den Musikschulen und Konservatorien von Lemberg, aber auch in anderen Städten studierten. Abgesehen von einem Leben in Frieden und Sicherheit geht es jetzt auch darum, weiter den künstlerisch-beruflichen Werdegang zu pflegen. Was Elena Margolina vor allem im Umfeld der Detmolder Musikhochschule 
hilft, ist das enorme Ansteckungspotenzial der Hilfsbereitschaft. Neben immensen zusätzlich anfallenden Unterrichts-Kapazitäten wird an der Detmolder Hochschule organisiert und improvisiert – allein, damit auch mit Raumkapazitäten und Instrumenten für alle zur Verfügung steht. Denn Elena Margolina ist viel zu sehr gründliche Musikpädagogin, als sie dieses Engagement auf irgendeinen „Charity-Aspekt“ reduzieren würde. Nach wie vor gehe es um Qualität, letztlich um Nachhaltigkeit. „Die jungen Menschen werden später mit einer Realität konfrontiert sein, an der sie sich messen müssen. Wenn diese jungen Menschen in die Ukraine zurückkehren, sind sie ein Aushängeschild. Und dafür ist es wichtig, dass sie sich in jeder Hinsicht gut profilieren. Als Musiker und auch als Menschen.“ Vor allem sehe sie bei den Musikerinnen und Musikern aus Osteuropa „diese sehr warme, persönliche Einstellung zu dem, das sie spielen. Darauf wird bei der Ausbildung in Osteuropa großen Wert gelegt.“

Elena Margolina, Boris Halt
Elena Margolina, Boris Halt, Foto von Stefan Pieper

Schubert als emotionales Zentrum

Diese Haltung lebt im Klavierspiel von Elena Margolina. Es ist wohl kein Zufall, dass die Musik Franz Schuberts für sie eine Art emotionales Zentrum darstellt. Das hat sich soeben mit einem weiteren Baustein in ihrem „Schubert-Lebensprojekt“ bestätigt: Ihrer neuen Aufnahme mit den Sonaten D 850 und D 958 wird wieder einmal dieses „perfekte Verständnis der Emotionen, die im Herzen jeder Sonate liegen (Adrian Quanjer) attestiert ebenso wie dieser „tief persönliche Aspekt“, den der Zuhörer intensiv erlebt.(pizzicato) Soeben haben Elena Margolina und Boris Hait auch ihre Potenziale als künstlerisches Duo entdeckt: Beim Benefizkonzert zusammen mit den ukrainischen Studierenden lässt sie Schuberts Andantio aus der Sonate A-Dur D 959 mit innigem Atem aufblühen. Boris Hait, der gerade erst seine hervorragende Rezitatoren-Stimme entdeckt hat, spricht zu Schuberts Musik Eichendorffs „Mondnacht“ und Annette von Droste-Hülshoffs Abschieds-Gedicht „Geliebte, wenn mein Geist geschieden“, außerdem das Gedicht „Memento“ der galizischen Dichterin Mascha Kalenko: „Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muß man leben.“

Tod, Trauer und Trost

Warum alle für dieses Programm ausgewählten Texte vom Ende des Lebens, von Abschied, Loslassen und Trost handeln? „Wir sind seit dem 24. Februar in Trauer“ bekundet der Palliativmediziner. Sämtliche neu entstandenen Duette aus Lyrik und Musik wurden in der Wuppertaler Immanuelskirche aufgenommen und bilden jetzt eine neue, soeben erschienene CD mit dem Titel „Tod, Trauer und Trost“. Hier kommen auch viele ukrainische Autorinnen und Autoren zu Wort, etwa Lyssenko, Skoryk undBortkiewicz, dazu ist Musik von Schewtschenko, Franko, Lessja Ukrajinka, Tschuprynka und Swidsinskyj zu hören. Bei diesen reinen Benefiz-Projekt verzichtete auch das ARS-Label auf sein Honorar, damit der Verkaufserlös komplett den Hilfsprojekten zu Gute kommt.

„Uns Trägern dieses Projektes ist es ein besonderes Anliegen, unsere Zuhörerinnen und Zuhörer mit Werken ukrainischer Künstler vertraut zu machen. Die entmenschlichende, aufhetzende Rhetorik des russischen Staates benutzt Begriffe wie „Entukrainisierung“, um die historischen Wurzeln des ukrainischen Volkes, seine Sprache und seine Kultur zu verhöhnen, zu negieren und zu pervertieren. Daher fühlen wir uns verpflichtet, die Schönheit und Schätze der ukrainischen Kultur in Wort und Klang lebendig zu erhalten“ schreiben Elena Margolina und Boris Hait im Booklet zur neuen Veröffentlichung.

Icon Autor lg
Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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