Die eigene Herkunft und kulturelle Identität sind nicht nur persönliche Angelegenheiten, sondern können Ausgangspunkte für Offenheit, Toleranz und Integration werden. So wirkt es, wenn die Pianistin Judith Jáuregui unter dem Titel „Homeland“ Edvard Griegs Klavierkonzert mit Manuel de Falla und seinen leidenschaftlichen Noches en los Jardines de España für ihre neue Aufnahme eingespielt hat. Diese Interpretin teilt das Anliegen der beiden Komponisten: Aus dem Erforschen von verschiedenen Traditionen und Einflüssen entsteht ein größerer Raum, in dem sich Unterschiede gegenseitig bereichern damit etwas größeres daraus entsteht. Für unser Gespräch musste erstmal ihr achtmonatiger Sohn, der auch schon regelmäßig in Judith Jáureguis kleinem Studio mithörend zugegen ist, in den wohlverdienten Mittagsschlaf gesunken sein.
Ich vermute, Ihr kleiner Sohn hat auch schon sehr viel Musik mitbekommen. Sehe ich das richtig?
Oh ja, absolut! Er hat quasi schon im Mutterleib Konzerte erlebt, da ich bis kurz vor seiner Geburt noch auf der Bühne stand. Kaum war er sieben Monate alt, habe ich schon wieder losgelegt. Täglich entführe ich ihn für eine halbe bis dreiviertel Stunde in mein kleines Musikreich – mein Studio. Dort spiele ich nur für ihn und seine strahlenden Augen verraten mir, wie sehr er es genießt.
Ich denke, dass damit schon ein tiefer, guter Grundstein für Bildung und ästhetisches Empfinden gelegt wird.
Genau so sehe ich das auch. Musik ist wie Nahrung fürs Gehirn – sie fördert die Entwicklung, und öffnet Türen im Geist. Ob mein Sohn einmal in meine Fußstapfen tritt, ist dabei zweitrangig. Viel wichtiger ist, wie die Musik ihn als Menschen formt und bereichert. Sie ist der Schlüssel zu einer ganzheitlichen Bildung, die in allen Lebensbereichen Früchte trägt. Wenn wir von einer toleranten, demokratischen und mitfühlenden Gesellschaft träumen, dann sollte Musik nicht bloß Beiwerk, sondern Herzstück der Bildung sein. Sie kultiviert einen offenen, sensiblen Geist. Genau das brauchen wir für eine lebenswerte Gemeinschaft.
Wie beurteilen Sie die Situation der heutigen Bildungsinstitutionen in dieser Hinsicht? Sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Ohne Zweifel! Musik sollte viel tiefer in unserem Bildungssystem verankert sein. Leider kratzen wir in den Grundschulen oft nur an der Oberfläche. Zwar gibt es Musikunterricht, aber der packt die Kinder selten wirklich. Es fehlt an ganzheitlichen Ansätzen, die Musik und Bewegung verbinden oder die Geschichte und Emotion der Musik zu vermitteln. Wir müssen früh ansetzen und Musik viel stärker in den Schulalltag einweben. Nur so können wir echtes Verständnis und tiefe Wertschätzung wecken. Das könnte auch eine Gesellschaft formen, die den Wert einer breiten kulturellen Bildung zu schätzen weiß.
Beschreiben Sie Ihren aktuellen Lebensmittelpunkt und was Ihnen daran gut gefällt!
Madrid ist seit 17 Jahren mein Zuhause. Nach meinem Studium am Richard-Strauss-Konservatorium in München unter Sukhanov zog es mich zurück nach Spanien. Madrid hat mich mit seinem kulturellen Kaleidoskop, den erstklassigen Konzerten und seiner zentralen Lage sofort in den Bann gezogen. Es ist eine Stadt, die das Leben feiert und in nur 15 Minuten bin ich mitten im pulsierenden Zentrum oder am Flughafen.
Sie stammen aus Nordspanien. Sind Sie noch häufig in Ihrer Heimat, wenn wir diesen Begriff im Kontext des Albumtitels betrachten?
Absolut! San Sebastián, wo meine Familie lebt, ist und bleibt meine Wurzel. Auch wenn ich nicht ständig dort bin, kehre ich regelmäßig zurück. Erst kürzlich habe ich einen Monat im Norden verbracht, um der Sommerhitze zu entfliehen. San Sebastián ist ein Juwel und berühmt für seine lebendige Kultur, mitreißenden Feste und die Haute Cuisine. Die Stadt trumpft mit großen, internationalen Festivals auf. Im Sommer vibriert die ganze Stadt vor Energie. Nicht zu vergessen ist das Basque National Orchestra – ein absolutes Spitzenensemble, das dort beheimatet ist.
Erzählen Sie mehr über Ihre Erfahrungen mit dem Orchestra Sinfónica de Castilla y León unter Leitung von Kaspar Zehnder!
Es war eine echte Freude, mit Kaspar Zehnder und diesem Orchester zu arbeiten. Dieses Ensemble hat für mich eine besondere Bedeutung. Mit 21 gewann ich einen wichtigen Wettbewerb in Spanien, dessen Finale ich mit genau diesem Orchester bestritt. Fast 20 Jahre sind seither vergangen, und wir hatten schöne gemeinsame Auftritte. Jede Zusammenarbeit ist aufs Neue bereichernd und bekräftigt diese lange, wertvolle Beziehung.
Arbeiten Sie schon länger mit Kaspar Zehnder zusammen?
Ja, die Zusammenarbeit mit Kaspar ist für mich stets ein Geschenk. Er kam einige Tage vor der Aufnahme zu mir ins Studio und die darauf folgende Zeit war wirklich wundervoll. Unser musikalisches Verhältnis ist sehr offen. Oft verstehen wir uns ohne viele Worte und atmen die Musik auf ähnliche Weise. Unsere Beziehung ist sowohl ehrlich als auch künstlerisch und persönlich. Diese Basis erlaubt es uns, bei den Aufnahmen spontan und frei zu sein, und wir haben dabei immer viel Spaß. In den letzten zehn Jahren habe ich mit ihm an verschiedenem Repertoire gearbeitet. Wir haben unter anderem das Schumann-Konzert, Mozarts 20. Klavierkonzert, Beethoven und das Ravel-Klavierkonzert gespielt und natürlich auch schon Manuel de Falla. Allerdings hatten wir Griegs Konzert vor dieser Aufnahme noch nicht gemeinsam gespielt.
Wie haben Sie den Aufnahmeprozess empfunden? Zwei so große Werke in nur zwei Tagen aufzunehmen, ist ja durchaus ambitioniert.
Auch der Musikproduzent Martin Rust hat einen großartigen Job gemacht. Ebenso Gonzalo Noque, der Besitzer und Präsident des Labels, der für seinen exquisiten Klang bekannt ist. Ich wusste, dass ich in guten Händen war, um diesen sensiblen und sorgfältigen Klang einzufangen.
Warum haben Sie diesmal das spanische Label Eudora ausgewählt?
Wir haben uns während der Pandemie-Zeit kennengelernt, als Gonzalo Noque zu uns kam, um ein Konzert auszunehmen. Dabei entstand eine wunderbare Verbindung.
Ich kannte Gonzalo schon zuvor und verfolgte seine Arbeit in den letzten Jahren. Ich bewundere seinen Klang, die hohe Qualität und die Klangidee, die er verfolgt. Während unserer Begegnung sagte er mir: Judith, wenn du in der Zukunft etwas zusammen machen möchtest, wäre das großartig. Später haben wir gemeinsam die Sonate für Violine und Klavier in d-Moll von Saint-Saëns aufgenommen. Ich war sehr zufrieden mit dem Klang und dem Ergebnis. Als dieses neue Projekt anstand, war er sofort dabei. Ich glaube, Eudora ist ein Label mit großer Zukunft. Es ist noch jung, etwa 10 Jahre alt, aber Gonzalo hat bereits international viel erreicht.
Sie haben diese Werke schon oft in Konzerten gespielt, bevor Sie sich nun für eine Aufnahme entschieden haben. Wie unterscheidet sich für Sie das Erlebnis eines Livekonzerts von der Aufnahmesituation?
Mir ist es wichtig, dass ich die Werke, die ich schließlich aufnehmen, vorher schon oft in Konzerten gespielt habe. Eine Live-Performance gibt dem Künstler die Energie, die er zum Atmen braucht, weil es eine unmittelbare Kommunikation mit dem Publikum ist. Jedes Mal, wenn man ein Stück live spielt und es mit den Menschen teilt, ist die Energie anders und einzigartig. Natürlich kann eine Aufnahme niemals das Erlebnis eines Live-Konzerts ersetzen, weil das Konzert nicht nur vom Künstler, sondern auch vom Publikum gestaltet wird. Das Publikum nimmt die Energie auf und gibt sie zurück. Es ist ein einmaliger Moment, in dem sich unsere Menschlichkeit ausdrückt.
Während der Corona-Zeit, als Live-Konzerte verboten waren, war das besonders spürbar. Wir versuchten, Online-Konzerte zu geben, aber sie konnten das Gemeinschaftserlebnis eines Live-Konzerts nicht ersetzen.
Ebenso bietet eine Aufnahme die Möglichkeit, neue Aspekte zu entdecken, wenn man offen im Geist und im Herzen ist. Wenn man in der Musik sicher und frei ist, kann man sich weiterentwickeln. Man wird empfänglicher, wie in einem Spiegel, und erkennt, was man noch verbessern kann. Dann beginnt man zu spielen – wirklich zu spielen, wie ein Kind spielt – und entdeckt viele neue Dinge in seinem Spiel.
Gibt es Momente, die Sie beim Spielen des Grieg-Konzertes besonders überrascht und begeistert haben?
Ja, es gab etliche besondere Momente. Die Energie war einfach überwältigend, ebenso die Kommunikation mit den Musikern. Grieg gibt mir die Möglichkeit, mit dem Orchester eine Art Kammermusik zu machen, besonders in den Solopassagen. Besonders die Passagen mit der Flöte, vor allem im dritten Satz, waren faszinierend. Auch das Cellosolo im dritten Satz war unglaublich schön.Ich bin sehr dankbar für die großzügige Unterstützung und das Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde. Der zweite Satz des Grieg-Konzerts war ein besonders tiefes Erlebnis. Wir haben ihn vielleicht drei oder vier Mal gespielt, aber es war jedes Mal wunderbar. Ich liebe die Art, wie die Streicher die Phrasen gestalten. Es ist einfach wunderschön, wie sie die musikalischen Bögen formen.
Wenn Sie die Noches en los Jardines de España von Manuel de Falla‘ spielen, möchten Sie dann vor allem Ihre eigene kulturelle Identität einfließen lassen?
Ja, das tue ich. Die Noches sind ein wesentlicher Bestandteil der spanischen Klaviertradition, und ich habe sie schon seit meiner Kindheit gehört. Auch wenn ich eine stark europäisch geprägte Ausbildung genossen habe – ich besuchte eine deutsche Schule und absolvierte mein Studium in Deutschland bei russischen Lehrern – ist die spanische Kultur immer ein Teil von mir geblieben.
Meine Ausbildung war stark auf zentrale europäische Musik fokussiert, von Haydn bis Debussy, Mompou und anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Ich habe dabei nicht die typische spanische Klavierausbildung durchlaufen. Meine Lehrer in Spanien kamen aus der französischen Schule, und ich habe viel über französische Klänge gelernt. Zudem habe ich mit Claudio Martínez-Mehner und Vadim Sukhanov gearbeitet, die sich auf deutsche und russische Komponisten konzentrierten wie Skriabin und Schubert.
Dennoch sind die Noches für mich eine natürliche Ausdrucksform des spanischen Impressionismus. Manuel de Falla komponierte dieses Werk nach seinem Aufenthalt in Paris, und der Eindruck dieser Zeit ist deutlich spürbar. De Falla sagte, er könnte nicht ohne Paris leben. Seit dieser Zeit entwickelte er seine eigene Sprache für die spanische Musik, die stark vom französischen Impressionismus und seinem Bezug zu Komponisten wie Debussy und Dukas geprägt ist. Das spürt man deutlich in den Noches.
Für mich sind die Noches daher ganz natürlich, weil sie all diese spanischen Elemente enthalten, die tief in mir verwurzelt sind. Mein Vater wurde in Mexiko geboren, wuchs aber in Frankreich auf. So habe ich auch viel französische Musik und Kunst in mir aufgenommen. Die ‚Nächte‘ vereinen spanische Elemente mit einem starken impressionistischen Klang, der in meiner kulturellen Identität verankert ist. Daher spiegelt sich in diesem Werk eine Mischung meiner kulturellen Wurzeln wider. Es verbindet spanische, französische und auch mitteleuropäische Elemente, die in meiner musikalischen Entwicklung zusammenfließen.
Würden Sie sagen, dass so etwas wie musikalische Muttersprachen gibt?
Ja, ich glaube schon. Es gibt sicherlich eine Art musikalische Muttersprachen, die tief in unserer kulturellen Identität verwurzelt sind. Diese musikalischen Wurzeln sind oft einzigartig und prägen unseren individuellen Stil. Aber trotz dieser Unterschiede sind wir alle miteinander verbunden. Unsere Liebe zu unseren eigenen Wurzeln und Traditionen schafft eine gemeinsame Basis, auch wenn diese Traditionen unterschiedlich sind. Diese Verbindung geht über kulturelle Grenzen hinweg und spiegelt sich in der Musik wider.
Man muss hier aber ein Prinzip der Offenheit zulassen. Unsere musikalischen Traditionen öffnen uns für neue Einflüsse und ermöglichen es uns, andere Kulturen zu integrieren und zu schätzen. Das Heimatland trägt dazu bei, wie wir andere Einflüsse aufnehmen und tolerieren, was letztlich zu einer bereichernden Verbindung zwischen verschiedenen Kulturen und Komponisten führt.
Verraten Sie mir noch ein paar mehr Ihrer Lieblingskonzerte!
Oh, da gibt es einige. Zum Beispiel liebe ich Schumanns Klavierkonzert, das ich natürlich oft gespielt und deswegen auch aufgenommen habe. Auch Ravels Klavierkonzert in G-Dur gehört zu meinen Favoriten, besonders der zweite Satz, der einfach himmlisch ist. Mozarts 20. Klavierkonzert ist ein weiteres Stück, das ich liebe, genauso wie Beethovens 1. Klavierkonzert. Es ist so frisch und lebendig, und ich habe eine besondere Vorliebe für C-Dur, obwohl ich auch a-Moll sehr schätze.
Chopins Erstes. Klavierkonzert ist ein weiteres Werk, das ich liebe und kürzlich in Frankreich mit Kaspar gespielt habe. Auch Brahms‘ Erstes Klavierkonzert gehört zu meinen liebsten Konzerten. Ich hatte zudem großen Spaß mit Gershwins Klavierkonzert in F, vor allem wegen des Rhythmus, der mich so sehr anspricht. Natürlich liebe ich auch das Grieg-Konzert, das ich oft gespielt habe, aber jetzt freue ich mich besonders auf ein neues Projekt: In dieser Saison werde ich mit der Bayerischen Kammerphilharmonie Joseph Haydns-Konzerte in D spielen. Mein erstes Konzertdebüt hatte ich mit einem Haydn-Konzert, als ich zwölf war, und seitdem habe ich es nicht mehr gespielt. Ich freue mich sehr darauf, es wieder aufzuführen, weil ich Haydns Humor und Frische so sehr schätze.
Ein weiteres Konzert, das ich besonders mag, aber noch nie gespielt habe, ist Skrjabins Konzert in fis-Moll. Es ist ein großartiges Werk und ich hoffe, es bald einmal aufführen zu können.
Judith Jáuregui, ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Titelfoto © Michal Novak