Ein Gastbeitrag von Beatrice Ballin
Postscriptum – ein ungewöhnlicher Titel für eine ungewöhnliche CD-Neuerscheinung. Die Pianistin Marie Rosa Günter und der Cellist Stanislas Kim spielten Werke von Sankt Petersburger Komponisten des 20. Jahrhunderts ein. Beatrice Ballin wollte Genaueres darüber wissen und befragte Marie Rosa Günter.
Sie haben gerade ein Doppelalbum eingespielt, das eine Hommage an die Sankt Petersburger Komponistenszene des 20. Jahrhunderts ist. Was hat Sie dazu inspiriert?
Wir sind beim Stöbern in der Notenbibliothek auf Komponisten wie Boris Arapov und Boris Tishchenko gestoßen, das hat unser Interesse geweckt und uns verleitet ihre Spuren zu verfolgen. Sankt Petersburg war ähnlich wie Paris, aber hierzulande weniger populär, ein wahres erfinderisches Epizentrum – im ständigen Spannungsfeld zwischen Repressionen und künstlerischer Freiheit. Widersprüche generieren Energien – vielleicht einer der Gründe für eine derart fruchtbaren Brutstätte… Ohnehin umgibt die Stadt Petersburg seit jeher fast etwas Mystisches: Das kleine Venedig, das Tor zu Europa, Dostojewskis „Stadt der Halbverrückten, der fixen Ideen und Halluzinationen”, die weißen Nächte… das hat uns alles sehr gereizt!
Neben Dimitri Schostakowitsch spielen Sie Werke von sieben weiteren Komponisten und Komponistinnen, die allesamt in Sankt Petersburg gewirkt haben bzw. auch dort geboren wurden. Natürlich gibt es weit mehr als diese. War es bei dieser Fülle nicht schwer, eine Auswahl zu treffen? Welche waren Ihre Kriterien?
Wir hatten eigentlich gar nicht vor, ein Doppel-Album einzuspielen, aber es ging bei der Fülle an interessanten Werken und Komponisten nicht anders. Und es könnte ohne Probleme ein weiteres Doppelalbum dazukommen, es war ziemlich schwierig, sich zu beschränken.
Sie haben nicht nur Originalkompositionen eingespielt, sondern auch Transkriptionen vorgenommen. So u.a. bei zwei Liedern aus Schostakowitschs Liederzyklus „FromJewish Folk Poetry“, der für Sopran, Kontraalt, Tenor und Klavier geschrieben ist. Eine Herausforderung?
Dem Cello liegt die menschliche Stimme sehr nahe, deswegen haben sich die Lieder angeboten. Es war aber spannend eine Auswahl zu treffen und ein wenig selbst zu arrangieren. Und gerade die jüdischen und spanischen Lieder sind ein beeindruckendes Zeugnis eines weltoffenen Komponisten.
Sind Sie mit diesem Programm schon in Sankt Petersburg aufgetreten?
Bislang nicht! Das „Tor zu Europa” ist leider momentan eher im Begriff sich zu schließen und wir hoffen natürlich sehr, dass wir unsere Spurensuche in nicht zu ferner Zukunft vor Ort fortsetzen können…
Mit Leonid Gorokhov haben Sie das Glück, einen „originalen“ zeitgenössischen Komponisten ins Boot geholt zu haben, der mit seiner Serenade für zwei Celli nicht nur die Musikwelt und Ihr Album bereichert, sondern auch selbst mitspielt. Sie bezeichnen ihn aber auch als Bindeglied zu den anderen Petersburger Komponisten. Inwiefern?
Wir haben damals Leonid Gorokhov berichtet, dass wir gerade die Sonate von Boris Arapovangespielt haben. Daraufhin erzählte er wie nebenher von seiner Begegnung mit Boris Arapovzusammen mit Daniil Shafran und von einem Treffen mit der einzigartigen Galina Ustvolskaya, der er ihre “Grand Duett” für Cello mit Kontrabass-Bogen vorspielte… Ich dachte, ich höre nicht richtig! Diese Geschichten aus erster Hand sind natürlich etwas ganz Besonderes.
Wurden in Deutschland noch weitere CDs mit Kompositionen von Leonid Gorokhov veröffentlicht?
Die Serenade ist eine Weltersteinspielung. Allerdings gibt es vom Trio Gaspard bereits eine spannende Einspielung eines Klaviertrios von Leonid Gorokhov.
In Ihrem Booklet ist ein von Ihnen verfasstes Gedicht abgedruckt. Welchen Stellenwert nimmt die Lyrik in Ihrem Leben ein und wurden Ihre Gedichte bereits verlegt?
Der Redefluss der Newa, im wahrsten Sinne des Wortes, hat sich ganz natürlich ergeben und entlang des blauen Faden der CD-Gestaltung eingefügt – das war also keine lyrische Herkulesaufgabe.
Sie schreiben in Ihrem Booklet, dass Sie Ihre Hörer dazu aufgefordert haben, sich zu „verzetteln“, sprich ihre Höreindrücke der Musikaufnahme auf einem Stück Papier zu festzuhalten. Wo kann man diese Verzettelungen nachlesen?
Ein kleiner Teil der Beiträge (leider mussten wir uns auch hier beschränken) finden sich abgedruckt im Booklet wieder, die Mehrzahl im Privatarchiv der Wohnzimmer-Schubladen! Wir haben vor der Veröffentlichung Aufnahmen herumgeschickt und um spontane Assoziationen auf kleinen Zetteln gebeten, daher auch das Flaschenpost Symbol auf dem Cover. Unser Anliegen war es, ganz verschiedene Herangehensweisen, Altersgruppen und Sprachen zu sammeln und damit auf einem anderen Wege zu betonen, was Petersburg für uns unter anderem ausmacht: einen regen und fruchtbaren Austausch von Menschen und Kulturen, nicht zuletzt auch zufällig gerade der Nationalitäten der Interpreten des Albums.
Und diese Zettelsammlung kann ja auch noch weitergehen. Das war jedes Mal eine nette Überraschung, wie eine Art Dauer-Adventskalender.
Marie Rosa Günter, vielen Dank für das Interview.
Titelfoto © Jo Titze