Sabine Bergk ist ursprünglich als Schriftstellerin tätig und ihre Lyrik wurde in zahlreichen Liedvertonungen zum Ausdruck gebracht. Später verlagerte sie ihren Schwerpunkt über die Theaterarbeit hin zur Podcastproduktion. Ihr Programm „Lieder können fliegen“ widmet sich dem zeitgenössischen Lied. In sorgfältig und liebevoll vorbereiteten Interviews beleuchtet sie dieses Genre der klassischen Musik und vermittelt einfühlsam die emotionale Tiefe der Lieder. Im Interview hatte ich die Gelegenheit, mehr über ihre Arbeit zu erfahren.
Sabine Bergk, du hast die Theaterwelt von innen kennengelernt, sowohl fest im Engagement als auch freiberuflich. Wie hat deine Arbeit im Musiktheater deine schriftstellerische und dichterische Tätigkeit beeinflusst und verändert?
Ich glaube, dass die Sprache einen unwiederbringlich in musikalische Gebiete führt und umgekehrt führt einen die Musik dringend zur Sprache. An die Oper hat es mich sehr früh gezogen, mit Anfang 20 habe ich mein erstes Praktikum an der Hamburgischen Staatsoper gemacht. Da hatte ich gerade ein Jahr Literaturstudium in Frankreich hinter mir. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass alles zusammen einen gemeinsamen Klang bildet – ich wanderte, Alexandriner dichtend, abends durch französische Straßen und später ging ich viel ins Konzert. Ich habe mir zu Fuß viele Gebiete erschlossen – oder sie sind mir begegnet und haben mich mitgenommen. In Hamburg gab es Konzerteinführungen von Gerd Albrecht, das war faszinierend und hat mir Türen geöffnet. Die intensive Zeit an der Oper, in der ich mir Handwerk abgeguckt habe und mit wunderbaren Sänger:innen direkt arbeiten durfte, die ersten Inszenierungen – all das hat wieder mein Schreiben beeinflusst. Gerade die Arbeit an Schuberts „Winterreise“… wenige Jahre später schrieb ich in einer existentiellen Situation, die sehr ähnlich war, zahlreiche Liedtexte. Ich bin also eine Art Spaziergängerin von Sans Souci, zwischen Musik und Sprache, mit all den existentiellen Dingen im Gepäck, die zum Leben dazugehören.
Deine Gedichte wurden fast 200 Mal vertont. Du sagst ja selbst, dass es ein magischer Moment ist, wenn deine Worte in Musik übergehen. Welche Erlebnisse und welche Gefühle hast du in diesem Moment?
Für mich gibt es nichts Schöneres als das Aufblühen eines Gedichts in Musik. Es ist wie ein erster Flügelschlag, das Zittern einer Blume, es gerät etwas in Bewegung, wird Raum, wird Wesen. Ich empfinde die Kombination aus Sprache und Musik wirklich als magisch.
Überhaupt lebst du deine Arbeit transformativ. Du bist nicht einfach Künstlerin in einem Genre, sondern gehst von der Schriftstellerei aus auf die Bühne, in die Musik und nun auch in einen Podcast. Immer wieder übersetzt du dabei die Themen und Inhalte in unterschiedliche mediale Formen. So sehr das Spaß machen muss, ist es manchmal auch anspruchsvoll, einem Thema in einer anderen Darreichungsform trotzdem weiterhin gerecht zu werden? Du hast ja offenbar hohe Qualitätsansprüche an dich selbst.
Natürlich ist das eine große Herausforderung. Jedes Mal, wenn ich mich an etwas Neues setze oder in etwas einarbeite, ist es wie ein Sprung ins kalte Wasser. Gerade bei dem Podcast habe ich ja auch viele neue technische Aspekte gelernt und musste mit ganz vielen Unwägbarkeiten umgehen. Die Podcast-Welt ist noch ganz neu und daher sind auch viele Spielregeln unklar. Ich habe unendlich oft bei der GEMA angerufen und war Dauergast in der Techniksprechstunde des Innovationport Wismar. Auch inhaltlich ist es eine riesige Herausforderung. Ich möchte den Interviewgästen gerecht werden und mich möglichst tief in ihr Werk einfühlen. Manchmal gibt es während der Recherche auch magische Blitze, meine Intuition hilft mir, wichtige Punkte herauszufinden. Es ist wie bei einer guten Akupunktur oder einer Massage. Der Therapeut hat auch nur eine Stunde, um einen Körper auf den Punkt zu erfühlen. Fast jedes Mal fühle ich mich, als sollte ich einen Salto ohne Anlauf vollbringen und dann auch noch gelassen und lachend auf den Füßen ankommen. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich vertrauen kann. Je besser ich vorbereitet bin, desto eher kann ich vertrauen und wenn ich mich dann vorbereitet fallen lasse, entspannen auch die Interviewgäste und oft wird es dann richtig schön. Das Geheimnis ist die Hingabe.
Was hat dich dazu inspiriert, den Podcast „Lieder können fliegen“ zu starten? In welchen Facetten möchtest du das Thema „Lied“ am liebsten zeigen oder als Thema entstehen lassen?
Lieder haben mein Leben kontinuierlich begleitet, wie gute Geister, beste Freunde oder gar Schutzengel. Seit ich die ersten eigenen Liedaufführungen hören durfte (mit meinen Texten), habe ich nicht aufgehört, Komponist:innen anzuregen, Lieder zu schreiben. Zeitgenössische Lieder haben jedoch kaum eine Plattform in unserer Gesellschaft, keinen Raum. Sie werden selten aufgeführt und verschwinden schnell wieder in der Schublade. Es ist unendlich schade, da gerade Lieder unser Leben und auch die Zeit, in der wir leben, sehr genau auf den Punkt bringen können. Mit dem Podcast „Lieder können fliegen“ habe ich eine Möglichkeit geschaffen, viele wunderbare Lieder hörbar werden zu lassen. Sie können jetzt endlich zu den Menschen fliegen, denen sie etwas bedeuten. Weltweit gibt es viele Liedliebhaber und Liederschaffende. Ich hatte bei der Gründung von „Lieder können fliegen“ bereits das Gefühl, dass es eventuell viel mehr Menschen sind, als ich mir vorstellen kann. Anfangs habe ich mit 20 Hörer:innen gerechnet. Inzwischen hat der Podcast fast 25000 Abrufe erreicht. Es fühlt sich großartig an. Das Kleine ist groß, ich wusste es immer. Im Zeitalter der Nomaden reist man mit kleinem Handgepäck.
Immer wieder musst du Menschen erklären, was zeitgenössisches Lied ist. Kannst du es für unsere Leser*innen dennoch ein letztes Mal tun?
Ein WAS? Fragen mich oft technisch ausgerichtete Menschen. Ein „Podcast für zeitgenössisches Lied“, sage ich dann ganz selbstverständlich, so wie Schubert, nur eben aus unserer Zeit. Ich spreche immer von Schubert, wenn es um Lieder geht. Das versteht jeder. Schubert hat etwas ganz Wesentliches für mich: Schubert ist ein Zuhause. Bei niemandem sonst würde ich gerne wohnen wollen. Dabei hatte Schubert materiell fast gar nichts! Die Liste seines irdischen Besitzes war so gering, dass alles auf eine Seite Notizpapier passte. Ich habe damals auf der Basis dieser Liste die „Winterreise“ inszeniert. Wie sehr man gerade bei Schubert Zuhause sein kann, ist mir bei einem Liederabend in einer Berliner Fabrikhalle bewusst geworden. Es war mitten in der Pandemie und ich war vollkommen müde, zerrissen, vereinsamt, doch mit dem ersten Schubert-Ton war ich sofort zu Hause angekommen. Lieder können das und ich wünsche den zeitgenössichen Liedern, dass sie an Schubert anknüpfen können, dass sie wirklich eine Wohnstatt werden können für uns in unserer Zeit, selbst wenn uns die Welt buchstäblich um die Ohren fliegt.
WAS aber genau ein zeitgenössisches Lied wirklich ist, lasse ich offen. Es steht mir nicht zu, das zu definieren. Ich lasse die Komponist:innen und die Lieder selbst sprechen. Manchmal habe ich während eines Interviews sogar das Gefühl, mitten in einem Lied zu sein.
Was fasziniert dich besonders am zeitgenössischen Lied in der klassischen Musik?
Es ist ganz frisch! Lieder sind ja wie Forellen, sie sind so lebendig und kaum hat man sie mit allen Sinnen erfasst, sind sie schon wieder vergangen. Ich möchte mit dem Podcast möglichst viele Forellen fangen – und freilassen.
Wie wählst du die Gäste für „Lieder können fliegen“ aus, und welche Geschichten möchtest du damit erzählen?
Anfangs habe ich die Komponist:innen interviewt, mit denen ich seit mehr als einem Jahrzehnt zusammenarbeite. Es kamen jedoch immer mehr Namen hinzu und mir wurde bewusst, dass ich doch recht vielen interessanten Komponist:innen und Musiker:innen durch meine Arbeit am Theater, durch meine Spaziergänge zwischen Musik und Sprache, begegnet war. Es waren aber auch Verleger:innen und Musikschriftsteller:innen dabei. Über die Bandbreite meiner unsichtbaren „Crew“ werde ich mir gerade erst selbst bewusst. Einige Komponist:innen, die ich schon lange kenne, haben inzwischen großartige Karrieren gemacht. Es sind aber auch ganz junge Komponist:innen dabei. Ich wähle nicht nach Kategorien oder Erfolgskriterien aus, es entstehen einfach immer wieder neue Verbindungen, Frequenzen, Blitze.
Innerhalb von „Lieder können fliegen“ behandelst du auch Unterthemen wie „Modern Lullabies!. Magst du uns etwas über deine Ideen dahinter erzählen?
Ich möchte nicht zu viel in Kategorien denken, das quält die Künstler sehr. Sie müssen sich ständig für Wettbewerbe in Kategorien zwängen und „Themen“ bearbeiten, die gerade in Mode sind. Deshalb gibt es eigentlich immer nur individuelle Folgen, in denen einfach Lieder besprochen und gezeigt werden. Der Podcast soll sehr frei sein und aus dieser Freiheit schöpfen. Dennoch liegt mir das Thema Geborgenheit sehr nah, da es gerade in der zeitgenössischen Musik auch viel Grenzmusik gibt, also Musik, die ein Maximum an Spannung anstrebt und manchmal auch eiskalt und verkopft sein kann. Den Weg zum Herzen zu finden, den Puls zu entspannen – das können Wiegenlieder besonders gut und ich sehe es als Herausforderung für zeitgenössische Komponist:innen, sich auf eine umgekehrte Reise zu begeben – nicht den nach außen gerichteten Weg der kriegerischen Aufmerksamkeit mit riesengroßer Orchesterbesetzung zu gehen, sondern den Weg nach innen, ins Innenohr, bis tief ins Herz hinein. Erst dann kann die Musik auch andere sofort berühren. Die „Modern Lullabies“ sind also als Herausforderung gedacht. Musik ist zutiefst Liebe und Liebe ist die größte Herausforderung, der wir uns im Leben stellen können. Es ist viel einfacher, sich in Schatten zu verkriechen, als sich dem hinzugeben, was das Herz leise sagt.
Mir fällt beim Hören von „Lieder können fliegen“ besonders deine angenehme Gesprächsführung auf. Du nimmst auf sehr sympathische Weise deine Gäst*innen an die Hand und wandelst entspannt durch das Gespräch, während du informationsdichte Passagen trotzdem sehr entspannt präsentierst. Manchmal greifst du etwas steuernd ein, aber lässt du dich ansonsten wirklich dabei treiben und folgst deinem Gefühl, oder hast du jedes Interview vorher mit einem relativ strikten Gesprächsablauf vorbereitet?
Das ist schön zu hören. Die Entspannung tritt wirklich erst mit dem Interview ein. Oft stehe ich vor dem Interview nachts um vier Uhr auf und recherchiere noch weiter, um möglichst viel Wissen anzusammeln. Ich habe inzwischen ein kleines Ritual für jedes Interview erfunden: Ich drehe den Tisch quer in der Wohnküche, stelle alle leeren Stühle als imaginäres Publikum auf und lerne dann meine Notizen, die den quergestellten Tisch bevölkern, auswendig. Anschließend platziere ich die Notizen choreografisch auf dem Tisch, damit ich mich zur Not optisch erinnern kann, wo was stand. Während der Interviews darf ich nicht mit dem Papier rascheln, also auch nicht blättern, da es schwer zu schneiden wäre. Die Entspanntheit kommt auch daher, dass ich viel auswendig gelernt habe und mich dadurch ganz auf den Moment einlassen kann, ganz auf das eingehen kann, was gerade passiert. Das macht für mich einen Podcast aus. Das ist die spontane Qualität, die einen Podcast interessant werden lässt, neben den Hochglanzprodukten der Plattenindustrie, und auf entspannte Art und Weise macht es auch noch am meisten Spaß!
Wie lange brauchst du im Durchschnitt für die Vorbereitung einer Podcast-Folge? Machst du das en bloc, oder nimmst du das Thema einer Folge in der Vorbereitung etwas länger im Kopf mit, um es sich dort entwickeln zu lassen?
Mit der Vorbereitung ist es sehr unterschiedlich. Manchmal ist die Zeit sehr knapp. Bei Valentin Silvestrov hatte ich nur drei Stunden Zeit (während des Winterreifenwechsels im Autohaus!), mich auf „Bessonnitsa“ vorzubereiten. Das war fast halsbrecherisch, es ist sehr riskant, so zu arbeiten. Glücklicherweise wurde die Folge gut angenommen, auch von Spezialist:innen und langjährigen Wegbegleiter:innen des Komponisten. Im Nachhinein möchte man dann eigentlich immer einen Monat Vorbereitungszeit haben. Leider ist oft nicht mehr als eine Woche oder manchmal gar nur 1 Tag möglich. Wenn ich recherchiere, arbeite ich jedoch sehr intensiv. Ich habe das Gefühl, alles in mich einzusaugen, eine Art Brennglas zu sein. Ich achte sehr auf Details, Hinweise und recherchiere sehr schnell. Dabei lese ich gleichzeitig sehr langsam. Das war schon immer so. Die Detailarbeit fordert eigentlich viel Zeit und vielleicht ist es diese Hyperkonzentration, die mir bei Zeitknappheit hilft, dem Thema zumindest annähernd gerecht zu werden. Gerade hat sich beispielsweise ein Interview um eine Woche vorverschoben und während ich diese Fragen beantworte, müsste ich eigentlich mit Hochdruck recherchieren. Für Wilhelm Killmayer habe ich einen ganzen Band Musik-Konzepte akribisch durchgearbeitet, für Sidney Corbett ebenfalls. Es ist optimal, wenn so viel Zeit zur Verfügung steht, dass man sich musikwissenschaftlich bestmöglich absichern kann.
Welche Herausforderungen und Freuden bringt das Leben als Freiberuflerin für dich mit sich?
Es ist eine Katastrophe, so ist es. Dafür birgt es tolle Überraschungen und wundervolle Begegnungen, die das Leben lebenswert machen. Beispielsweise mit der Sopranistin und Podcasterin Irene Kurka. Wir stärken uns gegenseitig den Rücken und tauschen uns aus, es ist richtig schön.
Wo können Hörer*innen dich und deine Arbeit unterstützen? In welcher Weise ist Unterstützung für dich am meisten hilfreich?
Der Podcast kostet viel Zeit und Geld. Die technische Schulung, GEMA Lizenzen, Hosting Gebühren, Arbeitsmaterial und meine Arbeitszeit. Hinzu kommt Social Media, viele Emails, Rechte einholen, koordinieren. Alles zusammen ist wirklich eine nicht allein zu stemmende Liste. Jeder, der sich an dem Podcast erfreut, kann mich ab sofort unterstützen und auf der Plattform „Steady“ Mitglied werden, sei es mit einem monatlichen Beitrag (5,50 Euro/ 10 Euro/20 Euro) oder gleich mit einem Jahresbeitrag. Mitglieder bekommen wöchentlich interne Statistiken, Zusatzmaterial und „Leckerlis“. Die Steady-Plattform baue ich gerade erst auf. Ich weiß, dass es auch für Hörer*innen neu ist, sich zu beteiligen, selbst etwas zu geben und nicht nur passiv zu konsumieren. Das ist ein Prozess, es muss erst einmal im Bewusstsein ankommen, dass so ein Podcast nicht alle zwei Wochen kostenfrei produziert werden kann. Ich freue mich riesig über jedes neue Mitglied. Wertschätzung darf nicht nur durch Daumen-hoch-Klicks geschehen. Aus vielen gemeinsamen Schritten entsteht ein tragfähiger Weg.
Kannst du uns Einblicke geben, was in der Zukunft für dich und für „Lieder können fliegen“ ansteht – neue Projekte oder Veröffentlichungen, auf die wir uns freuen können?
Es gibt viele neue Interviews mit hochinteressanten Gästen. Die „Modern Lullabies“ werden weitergeführt und es steht ja auch noch das Liedprojekt „Waisenkindlieder“ an, ein eigener Liederzyklus, der derzeit für den Podcast geschrieben wird. Die englischen Folgen (des Podcasts „Lied can Fly“) werden in Zukunft auch im deutschen Podcast zu hören sein, es geht also Richtung Mehrsprachigkeit. Ich freue mich auf Maacha Deubner (übe Elena Firsova), Claudia Barainsky (über Aribert Reimann), Torsten Rasch und Violeta Dinescu. Auch freue ich mich darauf, mit interessanten Partnern zu kooperieren. Ganz ehrlich: Ich bin selbst gespannt, wohin die Podcast-Reise geht. Um das Niveau langfristig halten zu können, braucht „Lieder können fliegen“ dringend starke Partner. Bei fast 25000 Abrufen dürfte es eigentlich nicht schwer sein, aber in der Branche wird ein Podcast als Werbemittel und Kommunikationskanal anscheinend noch nicht in seinem Potential wahrgenommen. Ich suche derzeit kluge Köpfe, die dieses einmalige Projekt wirklich unterstützen wollen und nebenbei auch für sich Synergieeffekte mitnehmen können. Inhaltlich stehen gleich zwei weitere neue Kategorien auf der Warteliste, aber ich halte sie derzeit noch zurück. Allein das alles täglich hinzubekommen, ist ja schon ein beträchtlicher Luftsalto.
Sabine Bergk, vielen Dank für dieses Interview!
Titelfoto © Hagen Schnauss