Die Geigerin Natalia van der Mersch und der Pianist Olivier Roberti haben die drei Sonaten für Klavier und Violine von Johannes Brahms opus 78, 100 und 108 aufgenommen und folgten dabei ihrem künstlerischen Instinkt, der auf tiefem gegenseitigem Vertrauen basiert. Darüber sprach Stefan Pieper mit Natalia van der Mersch und Olivier Roberti.
Natalia van der Mersch, sie haben im Sommer letzten Jahres die drei Violinsonaten von Johannes Brahms aufgenommen. Was bedeutet Ihnen diese Musik persönlich und was hat Sie angetrieben?
Das war eigentlich eine spontane Entscheidung. Wir hatten die Sonaten bereits gespielt und irgendwann fragten wir uns: Warum nehmen wir sie nicht einfach auf? Es war keine große, lange Überlegung – wir haben es einfach gemacht.
Aber etwas Planung und Organisation braucht es doch dafür?
Die Aufnahmetechnik muss man natürlich organisieren. Wir haben das Ganze im Château de Conjoux aufgenommen, wo auch die vorige Aufnahme mit der Musik Fritz Kreislers „My Kreisler Album“ entstanden ist. Aber ja, es braucht natürlich viel Planung drumherum, aber wir haben uns da gut hineingefunden.
Verraten Sie mir mehr über diese drei Kompositionen und Ihren Bezug zu ihnen!
Die erste Sonate habe ich bereits mit 17 Jahren gespielt und damit den renommierten Parke-Davis Preis gewonnen. Die zweite folgte, als ich 18 war. Die dritte Sonate habe ich erst vor einigen Jahren gelernt, weil ich sie lange nicht spielen wollte. In meiner ehemaligen Geigenklasse haben damals alle Kolleginnen und Kollegen die dritte Sonate gespielt, und das hat mich etwas abgeschreckt. Die dritte Sonate wird aber wohl deshalb auch am häufigsten gespielt, weil sie am beeindruckendsten ist. Darin fliegen wirklich die Fetzen.
Ging es Ihnen bei der aktuellen Aufnahme um den Gesamt-Zusammenhang?
Klar. Jede Sonate spiegelt eine andere Lebensphase von Brahms wider und transportiert so viele Emotionen und Geschichten. Das fasziniert mich jedes Mal.
Verraten Sie mir mehr über diese drei Kompositionen!
Es ist schwer, das in Worte zu fassen, weil ich mich lieber durch das Spielen ausdrücke. Die Musik ist meine Erklärung und ich liebe einfach, sie zu spielen. Wenn ich spiele, dann zeige ich, was ich fühle. Vor allem diese erste Sonate erinnert mich an einen ruhigen Sommertag, mit glitzerndem Wasser, das von der Sonne beschienen wird. Ich sehe einen See vor mir, umgeben von Bäumen, die leise rascheln. Es ist eine friedliche, warme Atmosphäre.
Eine schöne Beschreibung! Hatten Sie solche Bilder auch während der Aufnahmen im Kopf?
Ja, genau. Es ist spannend, wie intuitiv man diese Dinge manchmal fühlt, ohne es vorher zu wissen. Später habe ich erfahren, dass Brahms die Sonate tatsächlich am Wörthersee in Österreich komponiert hat – umgeben von einer Stimmung, wie ich sie im Kopf hatte. Das war ein schöner Moment, als mir das bewusst wurde. Die zweite Sonate hat Brahms am Thunersee in der Schweiz geschrieben, ebenfalls im Sommer. Auch wir haben unsere Aufnahme im Sommer gemacht – es war Anfang August. Die Atmosphäre war ähnlich: grün, ruhig, mit Vogelgezwitscher im Hintergrund. Es hat perfekt gepasst.
Das klingt nach einem schönen gemeinsamen Nenner zwischen Ihnen und dem Schöpfer dieser Musik mit seinem starken Gespür für Atmosphäre. Wie sehen Sie das?
Absolut. Diese Musik transportiert so viel Emotion und Bildersprache. Es geht um mehr als nur Technik – es ist eine ganzheitliche Erfahrung, bei der alle Sinne angesprochen werden. In unserer heutigen Zeit wird oft von einem „ganzheitlichen Leben“ gesprochen. Für uns Künstler ist das besonders wichtig.
Empfinden Sie Ihr Dasein als Musikerin überhaupt als harte Arbeit oder ist es dafür einfach viel zu erfüllend`?
Ich bin jeden Tag glücklich und dankbar dafür. Gerade bevor Sie angerufen haben, war ich am Üben – das ist für mich das größte Geschenk überhaupt. Ich liebe es, wenn ich Geige spiele, es ist meine Leidenschaft. Es ist ein wahres Glück, sich durch Musik ausdrücken zu können, denn dahinter steht pure Emotion. Ohne das wüsste ich garnicht, wohin mit meinen Gefühlen.
Interviewer: Hat sich Ihr Verhältnis zur Musik und zum Instrument während Ihres bisherigen Lebens noch geändert? War der Weg manchmal auch anstrengend?
Als Kind war regelmäßiges Üben ein Muss. Auch wenn ich die Geige von Anfang an geliebt habe, hat das nicht bedeutet, dass Üben immer Spaß gemacht hat. Je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, wie viel mir die Musik bedeutet. Mir war immer klar, dass die Geige mein Weg ist. Musik war in meiner Familie allgegenwärtig, Mein Vater hat selbst sehr gut Geige gespielt und oft mit mir geübt. Ich wundere mich heute noch, dass er so viel Geduld hatte. Am Anfang ist es ja wirklich schwer, überhaupt einen angenehmen Ton aus der Geige zu bekommen. Das dauert Jahre.
Also war Ihr Vater eine große Unterstützung bei Ihrem musikalischen Werdegang?
Absolut. Er hat mich immer motiviert und unterstützt. Ich erinnere mich, dass ich mit elf Jahren meinen ersten russischen Professor an der Musikhochschule Essen getroffen habe. Er sagte zu meinem Vater: „Ich nehme sie in meine Klasse auf, aber nur unter einer Bedingung – sie muss sich ganz auf die Geige konzentrieren.“ Das hieß, keine anderen Hobbys mehr, auch das Ballett, das ich damals sehr leidenschaftlich betrieben habe, musste ich aufgeben. Es war eine klare Entscheidung: entweder Geige oder nichts. Am Ende habe ich mich für die Geige entschieden, denn Ballett kann man nicht das ganze Leben lang machen, aber Geige schon. Also war das die richtige Wahl.
Sie haben zwei der Brahms-Sonaten schon mit 17 bzw. 18 Jahren gespielt. Wie war es damals, und wie unterscheidet sich das von Ihrem heutigen Spiel?
Mit 17 war ich noch ein Mädchen, das viel gelesen und vieles theoretisch verstanden hat, aber noch nicht so viel Lebenserfahrung hatte. Natürlich hatte ich damals schon eine Vorstellung davon, wie ich die Musik interpretieren wollte. Aber heute, nach all den Jahren, hat sich mein Verständnis vertieft. Ich würde nicht sagen, dass ich die Sonaten jetzt komplett anders spiele, aber mein Zugang ist reifer geworden – so wie bei einem Buch, das man mit 15 liest und dann noch einmal mit 40. Man erlebt und versteht es anders.
Die Brahms-Sonaten markieren einen perfekten Dialog auf Augenhöhe zwischen der Violine und dem Klavier. Erzählen Sie uns mehr über die Kommunikation mit Olivier Roberti, einem langjährigen Duopartner am Klavier.
Olivier Roberti ist ein Pianist, mit dem ich seit fast 25 Jahren zusammenarbeite. Er leitet ein Festival in Belgien, das „Rencontres Musicales Internationales d`Enghien“. Unsere erste Begegnung war bei diesem Festival während eines Meisterkurses bei Igor Oistrach, als ich noch Studentin war. Olivier entdeckte mich damals und seitdem spielen wir gelegentlich zusammen. Olivier ist zwar deutlich älter als ich, aber in der Musik spielt das keine Rolle. Es geht nicht um das Alter, sondern um die Begegnung, die Musik schafft. Das ist das Wunderbare daran.
Olivier Roberti, was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Herausforderungen beim Spielen der Brahms-Sonaten für das Klavier?
Brahms ist kein einfacher Komponist, besonders nicht für das Klavier. Das liegt unter anderem daran, dass seine Musik oft symphonisch wirkt. Man muss sich als Pianist vorstellen, dass man nicht nur Klavier spielt, sondern eine ganze Symphonie, mit all ihren Farben und Klangnuancen, die über die typischen Grenzen von Klavier und Geige hinausgehen. Das macht es so anspruchsvoll.
Wie würden Sie Ihre Rolle in diesem Duo beschreiben?
Ich denke, meine Rolle ist es, Struktur in die Musik zu bringen. Natalia hat diese wunderbare Freiheit im Ausdruck. Aber um das Ganze zusammenzuhalten, braucht es jemanden, der für die notwendige Ordnung sorgt. Pianisten sind gut darin, das zu leisten, und ich glaube, dadurch sind wir eine sehr gute Kombination.
Wie gelingt es Ihnen, diese symphonischen Qualitäten auf dem Klavier heraus zu arbeiten?
Für mich gehören die langen, kraftvollen Phrasen bei Brahms zu den größten Herausforderungen. Es geht darum, die Musik von Anfang bis Ende zu verstehen und diese langen Bögen über das ganze Stück zu spannen. Ein gutes Beispiel ist Furtwänglers Interpretation der Brahms-Symphonien. Er hat diese innere Kraft und die langen, kontinuierlichen Phrasen besonders herausgearbeitet. Es ist wie ein „Soufflé“, wie man in Frankreich sagt – eine innere Energie, die die Musik trägt und formt. Diese Qualität von Brahms’ Musik fasziniert mich. Sie ist tief verwurzelt, fast erdverbunden und hat eine unglaubliche Kraft. Brahms bewegt mich auf ähnliche Weise wie Beethoven – aber mit dieser romantischen Freiheit, die seine Musik einzigartig macht.
Haben Sie während der Aufnahme neue Aspekte an der Musik entdeckt, die Ihnen vorher nicht bewusst waren?
Vor allem wenn es um die Balance zwischen Klavier und Geige geht, haben sich noch neue Aspekte erschlossen. In einem Konzert oder einer Live-Situation fühlt man die Musik anders als im Studio. Es ist nicht immer einfach, das gleiche Gefühl in der Aufnahme wiederzugeben. Brahms verlangt ein perfektes Gleichgewicht zwischen den beiden Instrumenten. Das Klavier ist hier nicht nur eine Begleitung, sondern ein gleichwertiger Partner der Geige. Während der Studioarbeit wurde mir besonders bewusst, wie schwierig es ist, dieses Gleichgewicht zu finden.
Gibt es bei den Sonaten bestimmte Details, die besonders erwähnenswert sind?
Vor allem die dritte Sonate (Op. 108) fordert dazu heraus, verschiedene Farben und Stimmungen auf eine extrovertierte Weise zu zeigen. Die zweite Sonate (Op. 100) ist deutlich intimer. Diese Intimität passt sehr gut zu meinen persönlichen Eindrücken von dem Werk. Natalia und ich sind uns in diesem Punkt absolut einig.
Gibt es etwas Besonderes in der Spielweise von Brahms, das für Sie wichtig ist?
Was bei Brahms wirklich entscheidend ist, ist das richtige Tempo und die Art, wie man Phrasen gestaltet. Es ist wichtig, nicht zu schnell zu spielen und den musikalischen Momenten Raum zu geben. Manchmal müssen lange Noten länger gehalten werden als es im Notentext steht, und danach fängt man das Tempo wieder auf. Das gibt der Musik Tiefe und Raum zum Atmen. Das ist gerade bei Brahms unverzichtbar.
Wie haben Sie Natalia van der Mersch kennengelernt?
Das ist schon lange her. Ich leite seit über 32 Jahren ein Musikfestival für junge Musiker in Belgien. Vor etwa 25 Jahren kam Natalia zu einem Meisterkurs mit Igor Oistrach. Schon damals hat mich ihr Spiel sofort beeindruckt. Wir haben sehr bald beschlossen, gemeinsam zu musizieren und so hat unsere Zusammenarbeit begonnen.
Was macht Natalia van der Mersch für Sie als Künstlerin so besonders?
Natalia hat einen wirklich intuitiven Zugang zur Geige. Ich bin selbst kein Geiger, aber ich spüre sehr deutlich, dass sie das Instrument versteht und eine starke Verbindung zur Musik hat. Sie ist äußerst expressiv und bringt eine natürliche Freiheit in ihr Spiel ein. Es ist, als ob sie auf ihrem Instrument die Musik singt, besonders in den Phrasen. Dieser Freiheitsdrang und ihr melodiöses Spiel machen sie für mich zu einer außergewöhnlichen Künstlerin.
Natalia van der Mersch, Olivier Roberti, vielen Dank für dieses Gespräch!