Ein Gastbeitrag von Pia Marei Hauser
Die Beschäftigung mit der Persönlichkeitsstruktur von professionellen Musikschaffenden begleitet und fasziniert mich schon seit vielen Jahren. Eigentlich begann es bereits, als ich mich kurz vor Beginn meines Musikstudiums fragte, ob ich, als eher zurückhaltende Person, denn nicht völlig falsch sein würde in einem Beruf, der, wie mir damals schien, nur für ‚Rampensäue‘ gemacht war – zum Glück hat mich die Erfahrung eines Besseren belehrt! Im Gegenteil, ich durfte viele fantastische Kolleginnen und Kollegen kennen lernen, die ich auch als eher introvertiert beschreiben würde und die so gar nicht in das Klischee passen, das mein 17-järiges Ich sich damals ausgemalt hat.
Introvertiert. Ein Blick auf Musiker*innen
Hat die Ausprägung dieser Eigenschaft etwas damit zu tun, woher Kreative ihre Ideen und Kraft nehmen? Igor Strawinsky schreibt in seiner berühmten Poétique musicale: „Man erkennt den wahrhaft schöpferischen Menschen daran, daß er überall etwas findet, was der Beachtung wert ist, selbst in den einfachsten und bescheidensten Dingen. […] Was bekannt, was überall ist, regt ihn an. Der geringste Zufall fesselt ihn und wirkt auf seine Arbeit ein“. Inspiration und Kreativität werden also oft aus der Zurückgezogenheit des Alltäglichen und aus der Stille geboren. Eigene Erfahrungen und Aussagen wie diese führten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Frage, salopp gesagt: Wie ticken denn eigentlich Musikerinnen und Musiker?
Ich stieß unter anderem auf die Forschung des britischen Musikers und Psychologen Anthony Kemp, der in zahlreichen Studien einige Eigenschaften identifiziert hat, die besonders bezeichnend für diesen Beruf sind. Diese hat er in seinem Buch The Musical Temperament. Psychology & Personality of Musicians gebündelt und allesamt sind sie näherer Betrachtung wert! Aber heute soll es um die Charakteristischste davon gehen – die Introversion!
Die Information, dass Introversion ein Hauptcharakteristikum professionell Musikschaffender sein soll, hat mein Weltbild zunächst zumindest irritiert. Wie soll man denn bitte auf der Bühne eine überzeugende Performance abliefern, wenn man gar kein extrovertierter Typ ist? Auf der anderen Seite: wenn man sich den Weg anschaut, den man im Musikstudium und eigentlich lebenslänglich gehen muss – stundenlanges Verharren in Isoliertheit in einer ‚Übezelle’ oder beim Komponieren, dann ist diese Eigenschaft nicht weiter verwunderlich. Diese Zurückgezogenheit, fast schon kontemplative Einkehr, kommt nur für Menschen infrage, die es lange mit sich allein aushalten können.
Beides im Einklang
Der Komponist Salvatore Sciarrino geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt den Rückzug als eine Grundvoraussetzung für kreatives Schaffen. So kann man nur dann überzeugend Musik schaffen und spielen, wenn man sich in sein tiefstes Innerstes zurückzieht. So schreibt er in seinem Essay über den Ursprung der Ideen: „Wenn du tatsächlich […] in das Auge des Ichs geführt wurdest – weißt du, du hast das Geheimnis des Lebens berührt: Dort wird deine Kunst freigesetzt.“
Bei allem Pathos stellt sich aber nach wie vor die Frage: Wie bringe ich stundenlanges Arbeiten in innerer Einkehr und überzeugende Bühnenkraft zusammen?
Nach dem Persönlichkeitsfaktorenmodell des Psychologen Raymond Cattell besteht die Eigenschaft Introversion im Allgemeinen aus den vier Variablen Zurückhaltung, Selbstgenügsamkeit, Besonnenheit und Schüchternheit. Dabei sind die beiden ersten im Musikberuf besonders markant – und werden stärker je höher das erreichte musikalische Level ist!
Zurückhaltung charakterisiert Menschen, die reserviert, zurückgezogen und kritisch sind. Sie findet sich häufig bei Personen, die im Bereich Kunst, Literatur und Musik arbeiten. Selbstgenügsamkeit bezeichnet einzelgängerische, ressourcevolle Menschen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen. Auch dieser Charakterzug wird häufig bei Kreativen angetroffen. Im Musikberuf muss man fähig sein, sich von anderen Menschen zurückzuziehen und sich selbst zu genügen, um sich ganz auf das eigene Innere und auf die Musik zu besinnen.
Herausforderungen
Interessanterweise haben Kemps Studien gezeigt, dass die beiden Faktoren Besonnenheit und Schüchternheit, die Menschen besorgt und vorsichtig sein lassen, die Persönlichkeit von Musikerinnen und Musikern nicht in besonderem Maße charakterisieren. Die Introversion unterscheidet sich hier also vom gängigen psychologischen Konzept – denn ein gewisses Maß an Selbstsicherheit und Impulsivität sind im Musikberuf notwendig, um sich in die Herausforderung eines Auftritts vor Publikum zu stürzen und dies noch dazu gern zu tun!
Vielleicht eine anregende Perspektive für alle Musikschaffenden, wenn man mal wieder mit sich hadert und sich für die eigene Introversion verurteilt. Oder wenn man denkt, man dürfe nicht man selbst sein, sondern müsse irgendwelchen Klischees entsprechen.
Die Sicherheit, die es zu einem gelungenen Bühnenauftritt braucht, ist natürlich nicht allen in die Wiege gelegt – aber das ist zum Glück etwas, woran man arbeiten kann! Und wenn man darüber hinaus bereit ist, sich in der Vorbereitung ganz in sich und in die Musik zurückzuziehen, um sich ihr wirklich hinzugeben, kann man einen überzeugenden Auftritt abliefern und das Publikum erreichen – und dies auch genießen!
Über die Autorin
Pia Marei Hauser hat ihre Diplomarbeit der musikalischen Persönlichkeit gewidmet und beschäftigt sich seither regelmäßig mit der Thematik. So spricht sie beispielsweise im Interview mit Irene Kurka für den Podcast Neue Musik Leben über die spezifischen Eigenschaften von Musikschaffenden und hält im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit an den Musikhochschulen Münster und Osnabrück Seminare unter anderem zu Musikalität und Identität. Auch als Flötistin beleuchtet sie Fragen nach der künstlerischen Persönlichkeit, etwa in ihrer digitalen Konzertreihe ELLE zur Rolle der Frau in der zeitgenössischen Musik.
Pia Marei Hauser ist Flötistin, Dramaturgin und Dozentin mit Fokus auf zeitgenössischer Musik. Sie ist Gründungsmitglied des Ensemble CRUSH und spielt unter anderem beim ART Ensemble NRW. Sie tritt als Solistin und in verschiedenen Besetzungen bei internationalen Festivals und Konzerten auf, darunter das „NOW-Festival“ der Philharmonie Essen, das internationale „Opening Festival“ in Trier, das „Chamber Music Festival Agitato“ beim bulgarischen Rundfunk in Sofia und weitere. Sie arbeitet regelmäßig mit Komponierenden aus aller Welt zusammen und hat über achtzig Stücke von Solo bis zu großen Besetzungen uraufgeführt.
Hauser hat Flöte, Instrumentalpädagogik, Neue Musik und Konzertdramaturgie in Deutschland (Münster, Essen) und Frankreich (Montpellier, Strasbourg) studiert und sich auf interdisziplinäre Konzertformate spezialisiert. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit ist sie Hochschuldozentin für Musikvermittlung und bietet Workshops für zeitgenössische Musik und Improvisation, etwa an der Philharmonie Essen an.