Einfach Klassik.

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Jubiläums-Interview mit Kristjan Järvi

„Ich möchte Menschen dazu ermutigen, über Grenzen zu gehen“ 

Ein Interview mit dem Dirigenten und Komponisten Kristjan Järvi, der seit acht Jahren das Baltic Sea Philharmonic leitet. 

Kristjan Järvi und das Baltic Sea Philharmonic verfolgen mit ihrer unkonventionellen Dramaturgie eine große Vision: Um nichts geringeres als die Erweckung der schöpferischen Kraft in jedem einzelnen, aktiv musizierend oder zuhörend soll es gehen. Bezeichnenderweise verfolgte Hans Scharoun eine ähnliche Vision, als er die Berliner Philharmonie im Sinne der organichen Architektur in den 1960er Jahren konzipierte. Und ja, auch Kristijan Järvi hatte das Gefühl, dass dieser Raum mit seiner Verweigerung ridiger rechter Winkel seine Mission noch weiter stärkte. Schöpferkraft fließt nur, wenn keine Konventionen, Barrieren, Limitierungen im Wege sind. Und auch keine Notenständer im Wege stehen – die Musikerinnen und Musiker spielen seit Jahren auch große sinfonische Programme komplett auswendig. Nach dem Tourneebeginn in Berlin fand sich ein zufriedener Kristjan Järvi zum Gespräch bereit…

Kristjan Järvi, was bedeuten Ihnen die Konzerte mit dem Baltic Sea Phiharmonic?

Mir geht es sehr gut. Ich habe das Gefühl, wir haben Menschlichkeit und Glücksgefühl verbreitet. Das ist doch die einzige Sache, auf die es ankommt. Es geht darum, achtsam für seine Mitmenschen zu sein und ebenso, sich selbst und auf andere vertrauen zu können. Wir sind doch alle Schöpfende. Ich glaube, das ist vielen Menschen gar nicht bewusst. Aber wir möchten mit den Aufführungen des Baltic Sea Philharmonic dieses Bewusstsein gerne zurückbringen.

Haben Sie sich vor acht Jahren, als das Baltic Sea Philharmonic gegründet wurde, vorstellen können, dass sich einmal solche Wirkungen im Konzertsaal entfalten? 

Es überrascht mich nicht, was heute passiert. Es war klar, dass wenn wir mit einem offenen Konzept in die Zukunft gehen, auch Überraschendes entstehen würde. Der springende Punkt bei allen Experimenten ist, ob sie etwa nur vom Intellekt her oder wirklich von Herzen kommen. Natürlich hat alles beim Baltic Sea Philharmonic seine Entwicklungsstufen durchlaufen. Wir haben dem immer Raum gegeben. Es kommt immer drauf an, sich von Barrieren und Limitierungen, die vielleicht von Institutionen oder Konventionen scheinbar vorgegeben werden, frei zu machen. Ich möchte Menschen dazu ermutigen, über Grenzen zu gehen.

Sie führen ja auch eingschlägiges Repertoire auf, also Sibelius, Strawinski oder Tschaikowskis Nussknacker. Wie kommt hier Ihr Freiheitsbegriff zum Tragen?

Auf die Musik bezogen, geht es überhaupt nicht darum, Inhalte über den Haufen zu werfen. Aber es kommt auf eine zeitgemäße Form an. Strawinski und Sibelius haben auch heute musikalisch extrem viel zu sagen, aber damit sich dies entfaltet, braucht es neue Formate. Die althergebrachten Institutionen sind hier bislang der größte Hemmschuh. 

Kristjan Järvi, Foto © Siiri Kumari
Kristjan Järvi, Foto © Siiri Kumari

Sie führen Werke des sinfonischen Repertoires auf, ebenso haben Sie die Filmmusik zur Kultserie Babylon Berlin komponiert. Wie geht dies zusammen? 

Diese Serie hat genau das, was mich fasziniert und worin ich eine künstlerische Mission sehe: Bei Babylon Berlin wird ein faszinierender offener Blick auf die Zeit von früher gelenkt, der aber die Perspektive von heute einnimmt und damit ganz neue Faszination für Geschichte weckt. Diese Serie ist eben keine historische Dokumentation, sondern eine Interpretation aus dem Heute.

Was denken Sie über Deutschland im Allgemeinen? 

Deutschland hat einen guten Grund, stolz zu sein, da es aus dem Ballast der Vergangenheit heraus viel Gutes entwickelt hat. Vor allem wenn es um ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl geht. 


Was antworten Sie Kritikern, die sagen es ist verboten, eine Komposition für eine Aufführung in mehrere Stücke zu zerschneiden?

Gute Musik bleibt gute Musik, auch wenn man sie in verschiedene Teile zerlegt. Wir leben in einer Zeit, wo es Remixe gibt. Das sind zeitgemäße, völlig legitime Verfahren. Menschen gehen unterschiedliche Wege, um etwas aufzuführen. Wenn es den Menschen gefällt, ist das doch gut. Wenn ich so agiere, möchte ich die besten Dinge aus der Vergangenheit für die Zukunft erfahrbar machen.

Welche Vision steht hinter dem aktuellen Programm „Midnight Sun“?

Midnight Sun ist ein Ritual unseres eigenen Ichs. Es geht hier um eine Chance, Dich selbst zu finden und zu verstehen, dass Du selbst die Sonne sein kannst, von der alles Leben ausgeht. Es gibt normalerweise so viele Verführungen, in Selbstzweifel zu verfallen und schlechte Gefühle zu kultivieren, was eigentlich gar nicht nötig ist. So viel Furcht blockiert uns doch für viele gute Sachen in dieser Welt. 

Kommen viele Hemmschuhe aus dem bürgerlichen Kulturbetrieb heraus?

Als Beethoven seine Sinfonien schrieb, wollte er Dinge umstürzen. Er schrieb Noten, wie es noch nie jemand zuvor gemacht hatte. Auch wenn er in klassischen Formen verhaftet war, diese sogar meisterhaft beherrschte, wollte er aus Konventionen ausbrechen. Er nutzt diese Formen also sehr raffiniert, um Menschen etwas Neues zu vermitteln. Das alles sind sehr fortschrittliche Prozesse – lange, bevor irgendein technologischer Fortschritt in die Menschheit kam. Damit so etwas heute verständlich wird und Menschen sich für Neues öffnen, braucht es Formate, die in unsere Zeit passen. Es gibt zu viel Kontrollierendes in klassischen Konzerten und zu wenig Elemente, die auf Vertrauen und Selbstvertrauen setzen. 

Mittlerweile spielen die Musikerinnen und Musiker im Baltic Sea Philharmonic nicht nur komplett auswendig. Einige von ihnen komponieren sogar. Ihre Werke stehen während der Aufführungen gleichberechtigt neben einschlägigen Meisterwerken der Musikgeschichte. Worum geht es hier?

Die Setlist für das aktuelle Tournee-Programm ist nicht zufällig, sondern sie erzählt die Geschichte von Menschen, ihrer Herkunft und ihrer Prägung. Die ganze Musik dieses Konzertabends kommt aus einem Dreieck aus Finnland, Russland und Estland. Das ist eine geographisch sehr begrenzte Gegend an der nördlichen Ostsee, bei der ein organisches ästhetisches Miteinander die logische Konsequenz ist. Zugleich gibt es starke Unterschiede zwischen Länderkulturen und Traditionen. Das wird alles aufgegriffen in den neuen Stücken, die heute zur Aufführung kamen. Vor allem aber arrangieren die jungen Komponistinnen und Komponisten in ihrer Musik die eigenen Emotionen. Und sind auch von der Natur um sie herum stark inspiriert. Die Wirklichkeit ist divers, deswegen erklingt auch vieles komplett anders als zum Beispiel Strawinsky. Aber alles zusammengenommen bildet ein großes Ganzes, welches uns sagt, dass in der ganzen Vielfalt eine gemeinsame Seele liegt.

Kristjan Järvi, Foto © Siiri Kumari
Kristjan Järvi, Foto © Siiri Kumari

Auf der Bühne und im Publikum beim Konzert in der Berliner Philharmonie lebte der Geist der Freiheit. Aber die dahinter stehende künstlerische Qualität funktioniert doch nur durch harte Disziplin. Wie sieht es damit aus?

Ich halte es hier mit den Grundsätzen von Meditationstechniken, etwa im Yoga oder im Tai Chi. Jeder ist hier ein Meister oder kann dies werden. Das führt über den Weg der Selbstkontrolle. Und die wiederum entwickelt sich aus dem Wissen über Dich selbst. Wenn du Dich selbst kennst, kannst du alles erreichen. So etwas versuche ich, meinem Orchester zu kommunizieren. Jeder Mensch ist voller Potenzial. Es kommt darauf an, es im richtigen Moment zu entzünden, damit es sich entfaltet. 

Nochmal zu Ihrer Entwicklung im Ganzen. Anfang der 2000er Jahre spielten Sie mit dem Absolute Ensemble die Platte „Absolution“ ein, die ich mir immer noch gerne anhöre. Sehen Sie da noch Verbindungslinien zur heutigen Wirklichkeit im Baltic Sea?

Damit verglichen, sind wir heute ganz woanders unterwegs. Heute würde ich sagen, das war so etwas wie das Kronos Quartett, aber in einem etwas größeren Format. Wenn ich heute mit dem Baltic Sea Philharmonic arbeite, verfolge ich vor allem auf der menschlichen Ebene einen viel weiter reichenden Anspruch. Eben auch, weil es um Selbsterfahrung jedes Einzelnen, der beteiligt ist, geht. Ich möchte, dass sich eine Kraft immer weiter ausbreitet. Und klar: Ich wünsche mir, dass das Baltic Sea Philharmonic zur besten Band der Welt wird.

Kristjan Järvi, vielen Dank für dieses Interview!

Titelfoto © Franck Ferville

Icon Autor lg
Musik und Schreiben sind immer schon ein Teil von mir gewesen. Cellospiel und eine gewisse Erfahrung in Jugendorchestern prägten – unter vielem anderen – meine Sozialisation. Auf die Dauer hat sich das Musik-Erleben quer durch alle Genres verselbständigt. Neugier treibt mich an – und der weite Horizont ist mir viel lieber als die engmaschige Spezialisierung, deswegen bin ich dem freien Journalismus verfallen. Mein Interessenspektrum: Interessante Menschen und ihre Geschichten „hinter“ der Musik. Kulturschaffende, die sich etwas trauen. Künstlerische Projekte, die über Tellerränder blicken. Labels, die sich für Repertoire-Neuentdeckungen stark machen. Mein Arbeitsideal: Dies alles fürs Publikum entdeckbar zu machen.
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