Im Rahmen des 10-jährigen Jubiläums unseres Orchestergraben-Onlinemagazins konnte ich ein ausführliches Interview mit der Klarinettistin Sharon Kam führen. In einem sehr persönlichen Gespräch unterhielten wir uns über ihre musikalischen Wurzeln, Wechselwirkungen zwischen Kunst und Familienleben, die Musikindustrie und ihre Ausblicke in die Zukunft.
Frau Kam, wie sind Sie ursprünglich zum Instrument Klarinette gekommen?
Ich komme aus einer halben Musikerfamilie. Meine Mutter ist Bratschistin. Sie ist jetzt pensioniert, aber sie war viele Jahre beim Israel Philharmonic Orchestra. Eigentlich wollte sie Sozialpädagogin werden, und hat das in der Armee und im Jugendgericht auch gemacht. Mein Vater ist Wissenschaftler, Biophysiker, und wollte nach Amerika, um sein Postdoktorat zu machen. Sie haben nur gewartet, als gute Israelis, bis ich zur Welt komme. Als ich zwei Wochen alt war, sind wir in den Flieger nach Amerika gestiegen. Meine Mutter wollte dort unbedingt weiter studieren, hat aber festgestellt, dass dieser Bachelor/Master in Amerika ganz anders ist als bei uns in Israel, und dass sie dort eigentlich alles noch einmal neu hätte lernen müssen. Also kam sie zurück zur Bratsche, obwohl sie das Instrument schon drei oder vier Jahre vorher aufgegeben hatte. Sie hat dann ihren Master abgeschlossen. Zurück in Israel kam sie erst einmal in ein Kammerorchester und am Ende zum Israel Philharmonic. Sie war in meiner Kindheit also schon Profimusikerin, aber meine Mutter sah es als ein Geschenk an, mit dem Profis spielen zu dürfen. Deshalb habe ich es auch so empfunden – Musik machen ist kein Beruf, sondern ein Geschenk!
Als wir nach Israel zurückgekehrt sind, durfte ich, weil ich unbedingt wollte, mit knapp fünf Jahren mit Klavier anfangen. In der Folge habe ich ein bisschen Klavier und viel Blockflöte gespielt. Irgendwann einmal mit zwölf habe ich gesagt: „Blockflöte ist supertoll, ich will Blockflötistin werden.“ Aber in Israel gibt es das gar nicht. Für diese Art von Musik gab es bei uns nur eine sehr kleine Nische. Deshalb wollte ich dann mit Klarinette anfangen. Jeder normale Elternteil würde sagen: „Das ist schon das dritte Instrument in all den Jahren. Das wird nichts.“ Aber meine Mutter hat gesagt: „Okay.“, weil sie sich wünschte, dass wir Spaß an Musik haben. Deshalb bekam ich eine richtig tolle Klarinette, die ich sehr viele Jahre gespielt habe. Ich habe angefangen und dann drei Jahre später schon mit dem Israel Philharmonic gespielt.
Ursprünglich habe ich das Instrument natürlich erst einmal im Orchester gehört. Aber auch, über meine Mutter durch Eli Eban, den zweiten Klarinettisten im Israel Philharmonic. Ich habe schon sehr gut Blockflöte gespielt und Preise gewonnen, kam aber mit diesem Instrument nicht in die seriöse Musikwelt in Israel hinein. Da habe ich die Klarinette gesehen und gedacht: „Das ist auch so eine Blockflöte mit ganz viel Metall. Vielleicht wäre das etwas.“
Dann haben Sie auch schnell das technische Niveau erreicht, dass Sie dann dieses Konzert so bald spielen konnten?
Nein. Wenn ich heute unterrichte und zurückblicke auf meine Lernzeit dann muss ich feststellen, dass ich überhaupt nicht Klarinette spielen konnte. Sehr viele Jahre konnte ich ein Mozart-Konzert und ein Weber-Concertino. Dann habe ich noch Brahms und Schumann gelernt. Aber Klarinette konnte ich nicht spielen. Ich habe mir nur die Choreografie des Stückes angeeignet und konnte das dann irgendwie mit den Fingern tanzen. Aber grundsätzlich hatte ich zum Beispiel für eine Tonleiter keine gefestigte Technik. Ich habe Stück für Stück technisch erarbeitet. Das ist eine sehr ungewöhnliche und zeitaufwendige Art ein Instrument zu lernen. Ich habe immer alles durch die Hintertür gelernt, hatte eine musikalische Idee und wusste ganz genau, was ich wollte. Also musste ich irgendwie technisch einen Weg finden, das zu ermöglichen. Mein Klarinettenlehrer damals in Israel, erwähnter Eli Eban, hat immer gesagt: „Ach Sharon, es ist so schade. Du gehst jetzt nach Amerika und wir haben nicht einmal angefangen zu arbeiten.“
Haben Sie bestimmte Übungstechniken oder Tipps, wie Sie schwierige Stellen üben oder angehen?
Ich glaube, ich bin sehr, sehr pingelig. Ich höre ganz viel mit wachen Ohren. Jeder Musiker, der ein Topmusiker sein möchte, muss alles putzen, was andere schon längst für sauber halten. Da war ich sehr hartnäckig mit mir selbst, denn ich bin eine analytische Person. Ich analysiere immer die Probleme und versuche sie dann in ihrem Kern zu lösen. Das heißt, ich muss schauen, für welchen Finger, welche Bewegung problematisch ist. Dann versuche ich eine Bewegung aus dem Ellbogen, oder aus der Schulter zu erzeugen, um diese nicht so gelungene Stelle einfacher zu machen. Das heißt, ich schaue immer ganz tief in der Ursache, um Probleme zu lösen.
Ich sehe das auch bei meinen Studenten. Da muss man immer beobachten und zum Beispiel sagen: „Du bist Linkshänder. Deine Schwachstelle ist hier unten. Dafür müssen wir irgendwie eine technische Hilfe erzeugen. Verlagere das Gewicht auf die andere Hand, die linke, sodass die rechte Hand ein bisschen beweglicher bleiben kann.“
Damit es immer gelingt, müssen wir verstehen, wo die Fehler sind und die beheben, bevor sie überhaupt stattfinden. Das ist eine Analyse, fast eine Wissenschaft, die jeder Mensch bei sich selbst angehen muss. Deswegen bin ich nicht begeistert von groben Studien. Das finde ich stupide, und es macht müde.
Die Klarinette ist ja auch ein körperlich sehr forderndes Instrument, mit Ansatz und Luftsäule. Nehmen Sie sich denn heute bewusst auch einmal längere Auszeiten vom Klarinette spielen? Wie leben Sie langfristig mit dem Instrument?
Ich habe da einen sportliche Ansatz. Wenn man drei Wochen keinen macht, ist das Anfangen wieder schwer. Das heißt, der Körper gewöhnt sich das Musizieren sehr schnell ab. Man muss dabei bleiben, wenn man fit bleiben möchte. Für mich ist es fast einfacher zu sagen: „Ich investiere eine halbe Stunde am Tag.“, als dass ich sage: „Jetzt brauche ich unbedingt eine lange Pause. Und dann muss ich ein paar Wochen investieren, um wieder meinen Ansatz aufzubauen.“ Trotzdem ist es schon wichtig, auch abzuschalten und auch richtig Urlaub zu machen, um nicht immer die Familie zu belasten.
Auch wenn wir im Urlaub im Hotel ankommen oder eine lange Wanderung machen und ich mich quäle, noch eine halbe Stunde zu üben. Das ist auch nicht wirklich notwendig, das heißt nicht, dass es nicht ohne das geht. Nur muss ich mir danach bewusst machen, dass ich nicht nach drei Wochen aus dem Urlaub kommen und eine Woche später Konzerte spielen kann, wenn ich die Klarinette nicht dabei hatte. Es ist auch ein Teil unseres Lebens, zu entscheiden, worauf und wie lange ich verzichte. Auch das wieder reinkommen bevor ich zurück in das Profileben finden kann. Ich mag meine Klarinette gerne. Während der Corona-Zeit gab es wirklich kaum einen Tag, am dem ich nicht geübt habe. Aber immer ohne Zwang. Das zeigt mir immer, dass die Jahre vorbei sind, in denen das alles mühsam für mich war.
Die Klarinette ist für mich eine Art mich zu spüren. Ich brauche das wahrscheinlich auch noch, wenn ich nicht mehr berufstätig spiele, und ich möchte das nicht machen bis ich 80 Jahre alt bin. Berufstätig zu spielen heißt wirklich dieses Niveau auch immer weiter zu halten, und das wird immer schwerer, wenn man älter wird. Aber ich glaube nicht, dass ich dann gar nicht mehr spiele.
Sie geben viele Kurse und Meisterkurse. Was reizt Sie besonders an dieser Tätigkeit? Geht es da in erster Linie darum, Ihr Wissen weiterzugeben oder steht da auch ein Austausch im Vordergrund?
Seit Oktober habe ich eine halbe Professur hier in Hannover an der Hochschule, und damit auch regelmäßige Studenten. Das heißt, ich habe vorher wirklich nur im Meisterkursbereich gearbeitet. Dort gibt es eine Art Zaubereffekt. Alle hören zu, alle sind gespannt, aufgeregt, aufmerksam. Man sagt ein Wort und plötzlich klingt es ganz anders. Es ist eine tolle Bestätigung für den Lehrer und für denjenigen, der mich engagiert hat. Dieser Zaubereffekt fehlt bei regelmäßigem lehren. Ich vergleiche das immer damit, ob Oma zu Besuch kommt oder ob die Eltern da sind. Der Elternteil zu sein ist immer weniger spektakulär und die Wirkung jedes Wortes ist da nicht so groß, wie bei Großeltern zum Beispiel.
Ich mache das sehr gerne, weil ich wirklich denke, dass das Wissen weitergegeben werden muss. Wir haben von Lehrern und Lehrerinnen auch Wissen bekommen, das wir in dem Moment nicht ganz so toll fanden. Sie haben Lehrstunden investiert, um uns weiterzubringen und weiter zum Nachdenken anzuhalten. Auch wenn es damals nicht gewirkt hat, so wirkt es doch bis heute. Wenn ein Lehrer gut ist, dann lernt man von ihm für immer, für Ewigkeiten. Man entdeckt Sachen, die man mit 20 Jahren nicht verstanden hat, plötzlich mit 50 Jahren aber wieder. Genau das möchte ich bewirken, denn ich denke, dass unser Instrument ein wertvolles Ausdrucksmittel ist.
Ich finde es schade, dass die Klarinette manchmal im Hintergrund steht bei all den Geigen, Klavieren und Celli dieser Welt. Das hat viel damit zu tun, wie man lernt und was man von sich selbst und von seinem Instrument verlangt. Diejenigen, die mehr verlangen, bekommen auch mehr. Aber viele trauen sich gar nicht oder denken nicht, dass es notwendig ist. Sie hören dann auch auf, in sich zu suchen und erwarten nicht genug von sich. Ich habe immer viel mehr gesucht, als nur die Löcher auf der Klarinette.
Wir sind auch begrenzt. Wir können unsere Tonhöhe nicht selbst erzeugen, haben nicht vier oder fünf Positionen pro Ton. Wir haben keinen Bogen, den man in sehr, sehr vielen verschiedenen Art und Weisen benutzen kann. Aber wir haben Luft und wir sind dadurch näher an der menschlichen Stimme, die auch nicht unendlich viele technischen Möglichkeiten hat. Eigentlich ist die menschliche Stimme noch begrenzter als jedes Instrument, das wir kennen. Aber trotzdem kann sie uns vielleicht mehr berühren. Diese Nähe zur Menschlichkeit, zur Seele selbst ist so faszinierend. Leider gibt es für die Klarinette nicht so ein großes Repertoire wie Geige und Klavier. Aber wir haben sehr, sehr tolle Stücke.
Hat denn Ihre veränderte Lebenssituation als Mutter auch den Blick auf die Lehrtätigkeit verändert oder Ihre Vorgehensweisen dabei?
Ich glaube, wir sind als Eltern immer ganz fest in dem Moment, in dem unsere Kinder gerade sind. Ich bin mir sicher, wenn sie zum Kindergarten gehen, interessiert die Eltern jede Kleinigkeit ihres Dreijährigen. In der Pubertät schaut man dann wie sie die Augen verdrehen. Wir verändern unsere Interessen entsprechend, je nachdem, wie alt unsere Kinder sind, da es einfach nicht möglich ist, immer alles zu erfassen. Ich habe gerade zwei studierende Kinder, deswegen bin ich da sehr verhaftet in dieser Welt. Ich kenne auch die Schwierigkeiten: von zu Hause wegzuziehen, alleine sein Geld zu verdienen oder immer Mama zu fragen, wenn man Geld braucht für jede Festivalkarte oder ein Tattoo oder wie auch immer. Wie man sich von den Eltern und ihren Erwartungen löst. Daher bin ich fasziniert von meinen Studierenden, die auch ähnlich sind wie bei mir zu Hause.
Im Allgemeinen glaube ich, hat man ein gespaltenes Verhältnis zu Kindern. Einerseits bin ich sehr mütterlich: „Hast du etwas gegessen? Du bist blass heute.“ Andererseits habe ich aber auch eine fordernde Seite, ich bin an der Universität genauso fordernd, wie bei meinen eigenen Kindern. Vielleicht ist jemand, der kein Elternteil ist, anders und nimmt die einfach ein bisschen mehr so wie sie sind, und versucht sie weniger zu erziehen. Ich kann nicht aus meiner Haut. Ich bin eine absolut jüdische Mutter, was das Essen und Sorgen machen betrifft, aber ich will auch, dass sie ihr bestes geben.
Die Studenten müssen es aushalten, dass ich mit ihnen wirklich schimpfe, und dass ich sie wirklich auch in mein Herz schließe. Nicht alle wollen so von ihren Lehrern umsorgt werden. Andere brauchen das, weil die einfach wirklich das Gefühl haben müssen, dass sie jemand wahrnimmt und sehr an ihnen interessiert ist. Ich hatte so einen Lehrer nicht und ich brauchte das auch nicht, denn ich hatte das genug zu Hause. Ich wollte die harte Schule, habe dann vier Jahre lang studiert und bin weggegangen. Aber viele sind noch nicht so weit und brauchen erst einmal eine sehr geschützte und geliebte Beziehung zum Lehrer, um ihre beste Seite zu zeigen.
Im Februar gab es eine Konzertreihe in Israel mit der Israel Camerata. Was hatte es damit auf sich?
Das war ein Kammermusikkonzert mit meinem Bruder. Das Orchester mag es gerne, wenn Solisten kommen und sich auch vielseitig zeigen, und ich wurde angefragt. In Israel kennt mich jeder, da habe ich mich sehr gefreut. Die Camerata kenne ich seit sehr vielen Jahren. Ihr Chefdirigent Avner Biron war mit meiner Mutter im Orchester, und ich kannte ihn aus seiner Flötisten-Zeit, und ich habe dort auch öfters gespielt.
Das Repertoire ist für mich allerdings nicht unendlich. Ich kann dort nicht immer wieder das Gleiche spielen. Ich freue mich sehr, wenn ich ungefähr alle fünf Jahre dorthin komme und dann ist es sofort ausverkauft. Zwischendurch mache ich andere Dinge, aber ich spiele nicht unbedingt so oft das Mozart-Konzert. Israel Camerata haben gefragt, ob ich das Mozartkonzert spielen möchte. Eigentlich mache ich das am allerliebsten und fast exklusiv nur mit Kammerorchestern, da ich die Arbeit dann viel schöner finde. Man kann viel mehr machen, insbesondere wenn man vier Konzerte hat wie in dieser Woche. Da habe ich dann das Gefühl, dass ich eine sehr intime Beziehung aufbaue, wenn ich wirklich allen zugehöre, auf alles reagiere, und jede Facette der Unterhaltung dann auch noch ausführlich weiterführe. Das ist schön.
Wenn ein Orchester schon einen Solisten engagiert, dann muss es sich auch lohnen wegen der Kosten. Da ein kleineres Kammerorchester beweglich und Israel nicht groß ist, haben wir daraus eine kleine Tournee gemacht. Fünf Konzerte in einer Woche ist schon viel, aber ich reiste von dort sogar weiter nach Spanien und spielte noch einmal zwei Konzerte dort.
Im Februar waren sie auch in der Elbphilharmonie. Können Sie über das Konzert noch etwas erzählen?
Das war ein Konzert mit verfemter Musik aus der Nazizeit. Ludwig Hartmann, Vorsitzender der Kammermusikfreunde Hamburg, versucht sehr unterschiedliche Programme herzustellen. Dieses Programm stand schon fest. Er sagte zu mir: „Sharon, nur Mahler ist nicht interessant genug. Wir haben ein Orchester, das Sinti- und Roma-Musik spielt.“ Das ist ein ganz anderes Flair, nicht nur klassische Musik. Dann haben wir gegrübelt und wir hatten viele jüdische Komponisten, die früher entweder geflohen sind oder weggeschickt wurden und starben.
Dann haben wir festgestellt, dass wir bei so einem Programm eigentlich einen bekannten Komponisten brauchen, und wir haben uns entschlossen, mit Antje Weithaas und mit Kiveli Dörken einfach Bartók-Kontraste zu spielen. Das wird für mich ein wunderbarer Tag, an dem ich Freunde treffe und Bartók in einem schönen Saal spiele. Es ist wirklich toll, wenn man Veranstalter kennt, die total offen sind und gemeinsam gestalten wollen, anstatt eine Einladung mit einem vorgegebenen Programm zu erhalten.
Das klingt wirklich spannend, auch vom Programm her: Die verfemte Musik ist so ein reicher Schatz an Musik, die man vielleicht noch nicht kennt oder noch nicht gehört hat. Aber sie hat teilweise auch eine sehr große musikalischen Schönheit.
Genau. Dinge, die sich, – genau wie die jüdische Kultur –, eben wieder in die Gesellschaft einschleichen. Es ist wichtig festzustellen, dass es diese Kultur hier gab. Dann kam ein Chlormittel, das alles weggeätzt hat. Jetzt wächst die Kultur wieder nach, und das hat auch mit Bewusstsein zu tun. Ich war mit zwölf Jahren mit meiner Mutter und dem Israel Philharmonic in Japan auf Tournee. Als ich zurückkam, habe ich Japan überall gesehen. Vorher habe ich Japan nirgendwo gesehen. Es ist wirklich so, vom Essen über Kultur, Wörter Menschen, bis hin zu Lebensmitteln. Man erweckt so ein Interesse und dann findet man das selbst wieder. Man geht dann in andere Veranstaltungen, in andere Konzerte. Oder man kauft sich eine CD oder man findet dann Verbindungen, die man vorher gar nicht gewusst hat. Ich selbst würde dieses Konzert auch sehr gerne hören und sehen.
Es ist wichtig auch selbst zu erleben, welche Klänge woher kommen und warum sie verboten waren. Welche Phobien man damit verbunden wurden. Und wie hat man es trotzdem geschafft, dass die Musik weiterlebte?
Auf Ihrer letzten CD-Veröffentlichung, der Hindemith-CD, haben Sie in ganz unterschiedlichen Besetzungen abwechslungsreich musiziert, unter anderem mit Julian Steckel, Antje Weithaas und dem hr-Sinfonieorchester. Wie kam es zu den ganzen Verbindungen und der Kombination von Musiker*innen für die CD?
Das sind Menschen, mit denen ich schon seit 20 Jahren musiziere. Mit Antje habe ich mein erstes Hindemith-Quartett gespielt. Vor wirklich vielen Jahren. Wir kennen uns sehr lange und ich träumte so lange von der Aufnahme einer Hindemith-CD, da ich Hindemith sehr gerne mag. Auch mit dem Hintergrund der Bratsche in meiner Familie. Ich habe viel Hindemith auf der Bratsche gehört und es auch selbst immer gerne gespielt. Das Concerto kann ich auswendig spielen, ich liebe dieses Stück und habe es als Repertoirestück gelernt. Aber es wurde so selten angefragt, oder schafft es selten ins Programm, da es so etwas wie eine Hindemith-Phobie in der Gesellschaft gibt. Ich weiß nicht warum. Es ist so ein heiteres, schönes, lustiges und emotionales Klarinettenkonzert. Er hat das für Benny Goodman geschrieben. Hindemith ist nicht dunkel und intellektuell, sondern wunderbar und gehört in unser Repertoire, aber es spielt niemand.
Als Quartett haben wir auch mehrere Tourneen gespielt, anfangs mit Antje und Gustav Rivinius und dann auch mit Julian Steckel. Mit Julian und Enrico Pace habe ich ein Trio. Enrico wurde mein allerliebster Klavierpartner. Das heißt, da sind schon Verknüpfungen entstanden. Es war nur die Frage, ob sie Lust hätten, die Zeit hineinzustecken, denn von CD-Aufnahmen wird niemand reich oder berühmt. Wir haben dann einfach selbst zwei kleine Konzerte veranstaltet. Wieder nicht, um reich zu werden, sondern um das Programm auszuprobieren. Damit man es auch einmal im Konzert zusammen erlebt hat.
Also haben wir uns hingesetzt und dieses Stück [Hindemiths Klarinettenquartett, Anm. d. Red.] aufgenommen. Ich glaube, das Problem ist auch, dass es keine richtig gute Aufnahme davon gibt, eben weil es so selten gespielt wird. Alle drei waren sehr begeistert und zu 100 Prozent dabei und hatten Lust und Spaß. Es ist nicht selbstverständlich, dass so tolle Musiker einfach sagen: „Ja klar, das machen wir mit dir. Warum nicht?“ Da war ich sehr froh, sie gewinnen zu können und auch die Plattenfirma. Wirtschaftlich gesehen ist sowas mehr für den eigenen Katalog, als eine Geldanlage. Diese Risiken waren allen bekannt und trotzdem blieben alle dabei. Das finde ich ganz toll.
Gibt es denn trotzdem vielleicht schon Ideen oder Pläne für ein weiteres Aufnahmeprojekt, über die Sie sprechen könnten?
Ja, ich habe ganz viele Ideen, und nicht alle sind umsetzbar. Unsere Aufnahmewelt hat sich sehr verändert. Ich erzähle immer vom letzten Jahrhundert, eigentlich dem letzten Jahrtausend. Ich hatte einen Montblanc-Füller für die Unterschrift meines Vertrags mit Teldec Classics, von Hans Hirsch, der leider nicht mehr lebt. In jeder Stadt, in die ich gekommen bin, gab es in jedem Hotelzimmer einen Obstkorb und es gab jemanden, der mich abgeholt hat. Bei jeder Ankunft gab es erst einmal einen Tag mit Interviews. Das heißt, die haben mich einen Tag früher geholt, egal wo ich gespielt habe, und ich habe Interviews gegeben.
Dadurch konnte ich eine Karriere beginnen, die mich schnell bekannt gemacht hat. Es wurde damals extrem viel Geld ausgegeben um Künstler*innen and ei Plattenfirma zu binden. Aber dann wurde Teldec von Warner Brothers gekauft und es wurde Warner Classics. Und dann haben sie 33 Fachleuten, den besten Leuten in der Branche, einfach mal eben gekündigt.
Heute möchte ich nicht mit jedem Orchester aufnehmen, nicht mit jedem Dirigenten und nicht mit jedem Tonmeister oder Partner. Ich habe sehr, sehr genaue Vorstellungen und sehr genaue Ideen, was ich machen möchte. Wenn ich dann einen unbekannten Komponisten ausgrabe und sage: „Den möchte ich jetzt so und so aufnehmen.“, kostet es viel Geld und man weiß nicht, wie das zurückkommt. Dann ist es natürlich schwer das zu ermöglichen. Natürlich könnte ich irgendwie Sponsoren suchen, aber ich komme nicht aus dieser Generation und ich möchte das nicht. Ich denke manchmal: „Vielleicht ist es genug. Lass die jungen Leute machen, die eben ihre Gelder in CDs stecken, weil sie vorankommen müssen. Ihr einziger PR-Gag ist eine CD zu machen. Wenn es sie 5.000 Euro kostet, machen die das trotzdem.“
Diese Generation bin ich nicht. Ich möchte da nicht für immer und ewig einfach mittreiben. Und auf diese Preise warten, die nichts wert sind. Ich bin ein bisschen betrübt, was diesen ganzen Aufnahmebetrieb angeht, weil es einfach sehr, sehr viel gibt auf einem sehr hohen Niveau. Heute braucht man kein hochwertiges Equipment, um aufzunehmen und einen tollen Klang herzustellen. Ich habe alte Teldec-CDs, die wir noch per Hand geschnitten haben. Wirklich noch mit Bändern. Die sind immer noch gut. Auch alte CDs von egal wem halten mit heutigen Aufnahmen mit, obwohl man heute jeden Ton in seiner Intonation ändern kann.
Das nimmt der Sache ein kleines bisschen den Spaß. Vielleicht werde ich irgendwann einmal so etwas machen, aus Langeweile. Dann werde ich sicherlich total begeistert von mir sein und sagen: „Nein, nein, aber meine CD ist ganz anders.“, obwohl das nicht so ist. Es ist einfach ein großer Betrieb geworden und man spielt entweder mit oder nicht. Ich weiß nicht genau, wofür ich mich dann entscheiden werde.
Ehrlich gesagt habe ich zwei Ideen, aber ich rede noch nicht darüber, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie realisierbar sind.
Haben Sie denn für das Jahr 2023 einen besonderen Fokus? Einige Konzerte sind ja schon angekündigt. Geht es in diese Richtung oder noch mehr hin zur Lehrtätigkeit?
Ich möchte viel mehr in anderen Ländern spielen und mehr von der Welt kennen lernen, das wäre wirklich schön. Ich bin sehr gemütlich geworden, Deutschsprachige Länder sind nah und ich muss nicht weit weg. Ich habe jetzt eine 14-Jährige zu Hause. Das gibt mir schon mehr Freiheiten. Ich kann mit ihr telefonieren, und in Kontakt bleiben, auch wenn ich nicht jeden Tag da bin. Deshalb habe ich wieder mehr Lust bekommen, weiter wegzufahren. Zum Beispiel war ich in Korea für vier Tage. Das ist etwas, worauf ich vor zehn Jahre keine Lust hatte. Ich glaube, dadurch wird meine Tätigkeit ein bisschen breiter sein, als sie bisher war. Aber ich möchte auch darauf achten dass ich das wirklich genieße und nicht zu viel Stress habe. Dass ich nutze was ich bereits kann und tolle Recital-Programme mache. Mit Stücken, die ich mit Enrico noch nicht gespielt habe, weil wir bereits zwei Recital-Programme haben. Es ist richtig toll, eine langfristige Beziehung mit einem Pianisten zu haben. Das hatte ich länger nicht mehr seit ich mit Dieter Mahr nicht mehr spiele.
Ich habe schon länger jemanden gesucht, um so eine Beziehung aufzubauen und ein bisschen mehr auf Festivals zu spielen. Im Sommer habe ich sonst immer die sechs Wochen Familienurlaub freigehalten. Jetzt können alle mitkommen, und wenn ich ein bisschen arbeite, ist das ja nicht schlimm. Das sind so Sachen, die ich vielleicht ein bisschen durch das Familienleben heruntergefahren habe. Auch das besuchen von Klarinetten-Conventions um andere Klarinettisten kennenzulernen, oder Präsenz in anderen Hochschulen, um zu sehen, wie das Niveau dort ist. Das kann ich dann wieder zu meinen eigenen Studierenden der Hochschule bringen, um ihnen bei dem zu helfen, was ihre Konkurrenten dann vielleicht schon besser können, und um neue Idee zu bekommen für anderen Klassen und andere Lehrer. Unser Ziel als Lehrer ist es ja, so viele Türen wie möglich zu öffnen und damit viel Aufmerksamkeit auf die richtige Sachen zu lenken. So dass die Studierenden das Richtige tun und lernen und üben, damit sie gute Jobs, Curricula oder Wettbewerbe bekommen.
Das ist ja ein Interview anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Orchestergraben Online-Magazins. Haben Sie vielleicht Wünsche oder Ideen für die nächsten zehn Jahre eines kleinen Klassikmagazins?
Dieses hier ist ja ein Interview über einen Menschen und eine Karriere. Oft gibt es aber Best-of-Artikel, oder “Eine Reise durch…“ Da finde ich, gerade solche Berichte wie diesen hier über ein bestimmtes Produkt oder einen bestimmten Künstler oder ein Konzert immer interessanter. Da merke ich, ich lese mehr als bei einem globalen, flachen Bericht über ein unspezifisches Thema.
Ich finde es gut, wenn man ein bisschen weniger versucht, ‚politically correct‘ zu sein, sondern eine eigene Stimme findet. Wo man die Wahrheit über eine eigene Meinung erfährt. Ich vergleiche das gerne mit der Ära von Frau Büning (bekannte Musikkritikerin, Anm. d. Red.). Bei ihren Kritiken hatte man das Gefühl, dass man selbst im Konzert war. Man hat eine Beziehung zu ihr als Kritikerin, und ihrer Art von Kritik aufgebaut.
Danke, das ist ein guter Hinweis. Da wir ja alle keine professionellen Journalisten/Journalistinnen sind, ist es vielleicht für uns einfacher einen eigenen Stil zu finden.
Das ist schwer wenn man niemandem auf die Füße treten will, weil man nicht vom Fach ist. Ich kann das total nachvollziehen, aber es stimmt meiner Meinung nach nicht. Die tollsten Kritiken habe ich von meinem Vater, der kein Musiker ist, erhalten. Viel bessere als die von meiner Mutter. Sie hat gerne einzelne Phrasen kritisiert, die wir schon tausendmal auseinandergenommen haben. Mein Vater aber sagte einfach: „Weißt du, wenn du auf die Bühne gehst, könntest du doch lächeln. Das macht ein ganz anderes Gefühl. Du hast heute gelächelt und da war das ganze Konzert ein anderes.“ Er hatte so recht. Er hat das sofort gemerkt, und diese groben Punkte sind manchmal so viel wichtiger. Ich glaube, gerade Leser, die nicht Musiker sind, werden so etwas viel mehr schätzen, als wenn man nur Details kritisiert.
Sharon Kam, vielen Dank für dieses Interview.
Titelfoto © Nancy Horowitz