Ein Gastbeitrag von Ekkehard Ochs
Die Festspiele MV sind auf der Zielgeraden. Am 15. September ist das große Finale in Neubrandenburgs Konzertkirche. Dann ist nach dreimonatiger Dauer der Festspielsommer mit seinen 127 Konzerten Geschichte. Noch aber wird fleißig musiziert. Und das weiterhin mit höchst attraktiven Programmen und excellenten Musiker*innen. So wie am 28. August im historischen Ballsaal des Hotels Tucholski im Städtchen Loitz an der Peene, unweit Demmins. Zu Gast war das radio.string.quartet oder auch– so die Unterzeile im Programmheft – „Das Streichquartett des 21. Jahrhunderts“. Wow! Neugierig geworden, liest man dort Weiteres. Etwa: „Unser Antrieb war immer die Sehnsucht, die eigene Stimme im Jetzt zu finden, weiter zu suchen, auch zu scheitern und wieder von vorne anzufangen.“ Das ist schon handfestes Programm und signalisiert eine zu erwartende Dominanz unorthodoxen Musizierens. Und dazu passt: „Egal wo, wir sind immer die, die anders sind.“ Quod erat demonstrandum!
Loitz also! Ein Quartett-Ensemble – siehe oben – im Stehen und auswendig spielend, was eine besonders intensive, von momentaner Unmittelbarkeit und Direktheit bestimmte Art gegenseitigen Kommuniziernes voraussetzt. Dazu eine musikalische Sprache, in der keine „Vokabel“, die die Entwicklungen der letzten zweihundert Jahre bestimmte – Folklore, Rock, Pop, Jazz inbegriffen – zu fehlen scheint. Inbegriffen unorthodoxe Spielweisen und selten gehörte Klänge, die „aus dem Ozean seiner [des Quartetts] Fantasie“ geschöpft sind (Programmheft). Da wundert es nicht, dass das Programm komplett aus Eigenkompositionen und eigenen Arrangements bestand, also Ergebnissen der erwähnten Suche nach der individuellen Sprache, dem eigengeprägten Ausdruck, der eigenen Vorstellung von Musik. Das betrifft Originales ebenso wie Arrangements, hier etwa Liszts berühmten „Liebestraum“ Nr. 3 /(As-Dur) und – den gesamten zweiten Konzertteil allein bestimmend – Bernie Mallingers (Primgeiger des Quartetts) B:A:C:H like waters. Fantasie über die Violinsonate Nr. 1 g-Moll BWV 1001 für Streichquartett.
Fazit: Ein Abend der Festspiele MV jenseits klassischer Quartettpräsentationen. Dafür einer mit höchst differenzierten, aber keine radikal unkonventionellen Bereiche nutzenden Klangstudien. Prägendes Melos fehlt zwar nie, aber es ist stets eingebettet in werkbestimmende, oft in hohe Lagen geführte, nicht selten atmosphärisch wirkende Klangflächen. Diese bewegen sich zwischen einer auch Motorik (rhythmisch-melodische Stereotype, oft wiederholt) einbeziehenden Statik und im Inneren pulsierenden, die genannten Flächen strukturierenden Bewegungen. Harmonisch ist vieles völlig ungebunden, bei Arrangements aber wird Tonales durchaus berücksichtigt – ebenfalls recht frei. Diese Musik kann durchaus fesseln, denn sie ist – egal, in welchem stilistischen Bereich – offensichtlich als facettenreiche Ausdruckskunst angelegt. Und: Sie punktet zudem mit ausgeprägter Spiel- und Musizierfreude!
Neuartigkeit der Klangsprache, Ungewohntes in der Darbietung und Eigenwilligkeit in den jeweils beabsichtigten „Mitteilungen“, in denen Farben, gesungene Vokalisen, gesprochene Texte und ein ausgeklügeltes Soundsystem ebenfalls eine Rolle spielen, vermitteln schon den beabsichtigten Eindruck eines neuen, zumindest eigenen Weges. Das betrifft die selbst komponierten Stücke „High Altitude Euphoria“, „Silence“, „Walzer“ oder „Song“ (Bernie Mallinger/Johannes Dickbauer) ebenso wie die Arrangements von Liszt (Mallinger) oder Bach (Mallinger). Mit Letzterem hatte das Ensemble bereits bei den diesjährigen Salzburger Festspielen begeistert. Im Netz bezeichnete man die Aufführung als „ein einzigartiges musikalisches Ereignis, gekleidet in das Gewand einer klanggewaltigen 3D-Sound-Show.“ (Am Mischpult: Peter Otto Moritz).
Gleiches gelang in Loitz. Will heißen: Die 36-minütige Präsentation einer – nennen wir es mal so – Bach-Inszenierung, in der dessen g-moll-Violinsonate zwar irgendwie präsent ist, aber eigentlich „nur“ als Material- und Stofflieferant, als allerdings respektvoller, zumeist nur punktuell wahrnehmbarer Anreger für weit ausladende Fantasien – man den ke an den Werktitel – dient. Vielfach scheint improvisatorischer Charakter zu dominieren, ansonsten ist die Bandbreite differenziertester musiksprachlicher Mittel zwischen Barock und Philip Glass bemerkenswert. Ganz ohne Anstrengungen geht es aber nicht, um bis zum Schluss ungeteilte, nicht nachlassende Aufmerksamkeit zu sichern. Man konnte sich allerdings akustisch auch „hängen“ lassen, die höchst variablen, oft auch recht empathischen dynamischen Abläufe auf sich wirken lassen und die durchaus faszinierende Klangwelt (samt Farbspielen, Vokalisen singender Protagonisten, einem längeren Textvortrag und elektroakustischer Einspielungen) einfach nur genießen; aber dann hätte man wohl an den künstlerisch anspruchsvollen Absichten der Autoren vorbeigehört. Wie dem auch sei – der Abend war ein voller Erfolg: Tolle Musiker*innen, interessante, aber auch packende Stücke, und ein Musiziergestus, der den vollbesetzten Saal ganz schnell eroberte und nicht wieder losließ. Loitz hatte wieder einen musikkulturell großen Tag.
Gern hätte man das zwei Tage später und uneingeschränkt auch von einem Konzert der Festspiele MV in Anklams Marienkirche gesagt. Hier musizierten mit Dorothee Oberlinger (Blockflöten), Nils Mönkemeyer (Viola) und einem Instrumentalensemble von (mit Mönkemeyer) vier Violen (Kairi Fuse, Zeyang Kan, Denis Valishin), einem Violoncello (Matthias Bergmann), Violone (Kit Scotney), Theorbe (Andreas Arend) und Cembalo (Sabine Erdmann) hochkarätige Garanten für einen Barockabend der Sonderklasse; zulässige Freiheiten in der Besetzung – keine Violinen, keine Gamben, diverse Arrangements – inbegriffen. Fazit auch hier: ein fantastisch stilechtes, enorm musikantisches (moderiertes) Erlebnis und solistische Leistungen, die – wenn auch erwartbar – immer wieder begeistern. Der Wermutstropfen war die Akustik in einem Raum, dessen Höhe und Weite für eine dem Wohnraum (Selbstmusizieren) oder dem barocken Saal zuzuordnende Musik ungeeignet erscheinen ließ. Bei Solostücken, etwa Bachs a-Moll-Partita für Blockflöte solo BWV 1013, einigen Zweistimmigen Inventionen [Klavier] aus BWV 772-786 (Viola, Flöte) oder dem Canon cancrizans (für Klavier, BWV 1079, Musikalisches Opfer, Flöte und Viola), gab es eher hinzunehmende akustische Probleme; auch ein Corelli (g-Moll-Sonate op. 5/12 „La Follia“ für Flöte [Violine] und Basso continuo) oder Vivaldis sensationell auf dem Sopranino geblasenes Flötenkonzert „Il Gardellino“ (Der Stieglitz) op. 10 Nr. 3 (RV 428) ließen dank einfacherer Harmonik und Struktur zumindest teilweises Hörvergnügen zu. Wirklich problematisch waren Johann Georg Pisendels (oder Bachs??) c-Moll-Sonate für Viola [Violine] und Basso continuo (ehemals BWV 1024) und Bachs 6. Brandenburgisches Konzert (B-Dur, BWV1951, mit vier Violen), für deren polyphone Dichte – die langsamen Sätze teilweise ausgenommen – sich der Raum (zumindest dort, wo der Berichterstatter saß) als gnadenlos überhallig erwies. Schade! In der rappelvollen Kirche war das Publikum der Festspiele MV dennoch sehr angetan und ließ das die Künstler*innen auch ausgiebig spüren.
Titelfoto © FMV