Mit „Unsere Kinder der Nacht“ wurde am Landestheater Linz eine zeitgenössische Oper von seltener Strahlkraft uraufgeführt: Helmut Jasbars neues Werk verbindet innovatives Klangdenken mit sinnlicher Musikalität und philosophischem Tiefgang. Statt belehrender Didaktik entfaltete sich ein künstlerisches Plädoyer für gesellschaftlichen Wandel – getragen von einem Ensemble, das die Herausforderung einer Uraufführung zu packendem Musiktheater verdichtete.

Ein Kind erwacht aus einem Albtraum und findet seine Eltern in einem paralysierten Dämmerzustand vor – gefangen in unerfüllten Sehnsüchten ihrer Vergangenheit. Als die Kinder mit einem kollektiven „Streik“ protestieren und Lehrer wie Experten scheitern, führt die Göttin Nyx sie in die Unterwelt von Hades Inc. Dort müssen sie Hypnos überzeugen, ihre Eltern aus dem ewigen Schlaf zu befreien, der als Metapher für die Gemütsstumpfheit der Erwachsenenwelt mit ihren Konventionen, Gewohnheiten und verengten Wahrnehmungsschablonen steht. Diese Handlung entfaltet sich auf mehreren Ebenen: Als Familiendrama, gesellschaftskritische Parabel und moderne Neuinterpretation antiker Mythologie. In diesem vielschichtigen Rahmen entwickelt Jasbars Oper einen eindringlichen Spiegel unserer Gegenwart – dank der Inszenierung von Hermann Schneider, die der Uraufführung eine symbolträchtige Intensität verlieh. Jasbar hat hierzu eine lebendige musikalische Welt voller Freigeist geschaffen – genährt von Jazz, zeitgenössischer Moderne, Sinfonik und Stilmitteln der großen Oper. Durch geschickt eingesetzte Slapstick-Elemente gelang eine Balance, die bei der Uraufführung vor lähmender Schwere bewahrte.
Der gewohnte Standpunkt reicht nicht mehr aus, um die Welt zu ergreifen
Zu Anfang sitzen die Kinder in einer Schulklasse, die in ihrer starren Ordnung dem Bild einer entmenschlichten Gesellschaft gleicht. Ihre Augen sind wach, haben eine Klarheit, die den Erwachsenen längst abhandengekommen ist. Im Frühstückszimmer der Eltern verwandelt sich eine Unterhaltung über das tägliche Leben in eine schmerzvolle Offenbarung über das Nicht-Gelebte in einer von Routinen erstarrten Realität. Die Kinder erheben sich lautlos, beinahe wie in einem gemeinsamen Traum, erkennend, dass der gewohnte Standpunkt nicht mehr ausreicht, um die Welt zu begreifen. Denn nur wer den gewohnten Blickwinkel verlässt, kann neue Wahrheiten finden.

Hermann Schneiders Inszenierung entwickelte starke Bilder hierzu. Dieter Richters Bühnenbild visualisierte die Spaltung zwischen der institutionellen Welt und einer surrealen Fantasiewelt der Kinder. Zum Höhepunkt wurde der Auftritt von Vaida Raginskytė als Nyx, der rätselhaft verführerischen Göttin der Unterwelt: Ihr Mezzosopran füllte den Raum wie ein Zauber, der die rationale Welt aufbricht. Jasbar hatte auch den anderen Charakteren wirkungsstarke Partien auf den Leib geschrieben: Gotho Griesmeier als Mutter und Christian Drescher als Vater und Frau Mag. Zerberus begeisterten in reibungsvollen Interaktionen, das entstehende Geflecht aus Stimmen unterstrich die komplexen Beziehungen der Charaktere. Daniel Morales Pérez brillierte als Slapstick-Artist, dessen groteske Verrenkungen ihn auf der Bühne straucheln lassen.
Die Überzeugungskraft auf der Bühne entstand aber vor allem durch die treibende Energie, welche vom Kinder- und Jugendchor des Landestheaters Linz ausging. Die intensive Einstudierung der komplexen Chorpassagen durch Elena Pierini mit den Sängerinnen und Sängern im Alter zwischen 8 und 17 Jahren hatte bewirkt, dass die jungen Sängerinnen und Sänger die komplexen zeitgenössischen Partituren, in denen viel Chromatik und jazzige rhytmische Vokalisierungen vorkamen, nicht nur technisch, sondern auch in ihrer emotionalen Tiefe erfasst wurden.

Helmut Jasbars Musik als starke Unterströmung
Überhaupt Jasbars Musik: Sie wirkte während dieser intensiven anderthalb Stunden als eine überlegene Kraft, die wie ein roter Faden oder wie eine kraftvolle Unterströmung die Psychologie der Handlung auf der Bühne weiterdenkt, kommentiert, manchmal auch ironisch konterkariert. Jasbar hat die Musik zu seinem eigenen Libretto geschrieben und das merkt man an der Konsequenz, mit der jede musikalische Geste immer ganz dicht an jeder Sprachwendung des Texte dran ist. Und das beeinhaltet im fliegenden Wechsel Minimal-Music-Patterns, spätromantische Gefühlsausbrüche, Spannungsfelder zwischen atonaler Struktur und Jazz-Rhythmen. Überhaupt kommt dem Schlagwerk eine besondere Rolle zu: Filigrane Snare-Wirbel und hochdynamische rhythmische Motive wechseln sich mit treibenden Rock-Riffs ab, während funkelnde Mallet-Instrumente und pulsierendes Drumset immer wieder neu und überraschend ins Geschehen eingreifen. Das Bruckner-Orchester arbeitete sich an diesen multistilistischen Abenteuern spielfreudig und souverän ab – hier machte es sich wohl auch bezahlt, dass beim Landestheater Linz regelmäßig Uraufführungen auf dem Spielplan stehen. Das Ende bleibt bewusst offen, denn eine simple Lösung verweigert unsere Wirklichkeit, der dieses Stück einen Spiegel vorhält. Die Erwachsenen erwachen aus ihrem metaphorischen Schlaf, doch auh jetzt kehrt der stolpernde Clown als Mahner eines überschrittenen Wendepunkts zurück. Jasbars für den Schluss ausgewähltes Hölderlin-Zitat „Wir kommen zu spät“ wirkt wie eine bittere Erkenntnis, deren Reflexion die Stärke der Inszenierung ausmacht, zugleich suggeriert ein positives Bühnenbild fast so etwas wie ein Kitsch-Happy-End, was in seiner Ironie schon fast an einen David -Lynch-Film denken lässt.
Titelfoto © Reinhard Winkler