Ein Beitrag von Ekkehard Ochs
Seit vergangenem Montag macht das älteste Musikfest auf dem Boden der ehemaligen DDR, die Greifswalder Bachwoche, wieder von sich reden. Nunmehr mit dem 79. Jahrgang und diesmal unter dem Thema „Bach familiär“, was sich nicht nur auf die Familie Bach, auf den Thomaskantor und mehrere seiner Söhne bezieht. Trägerin ist die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland in Kooperation mit der Universität Greifswald sowie im Zusammenwirken mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern, der Universitäts- und Hansestadt Greifswald und dem Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis als Unterstützer. Die künstlerische Leitung hat Frank Dittmer, Professor für Kirchenmusik mit Schwerpunkt Dirigieren am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität. Erneut haben die Veranstalter keine Mühe gescheut, diesem Fest geistlicher Musik den Charakter mittlerweile schon als konstitutionell empfundenen familiären Geistes zu verleihen. 45 Veranstaltungen, zumeist Konzerte, das Ganze an sieben Tagen und damit ein Marathon, der schon mal von 8.00 Uhr morgens bis Mitternacht geht und bis zu zehn Veranstaltungen umfassen kann. Ansonsten das Bild wie üblich: tägliche geistliche Morgenmusiken mit Predigt und der obligatorischen Bach-Kantate, die tägliche Reihe „Bach zur Nacht“ (Orgel um Mitternacht). Ebenfalls täglich: Mitsingeproben für jedermann (Bach-Kantaten). Dazu diverse Kammermusiken, die obligatorische „Große Kammermusik“ (Orchester), Vorträge, ein hochkarätig besetztes musikwissenschaftliches Symposion zum Generalthema, sechs Veranstaltungen für Kinder und Familien und anderes mehr. Bachwochen-Besucher*innen sind schon lange die härtesten!

Aber der volle Einsatz lohnt, denn Masse hat hier auch Klasse! Was schon am Eröffnungstag (Montag) zu beweisen war. Da gastierte im Dom St. Nikolai der Mädchenchor Hannover und damit eine Institution von weltweit höchst geschätztem Rang. Struktur und Biographie des 1951 gegründeten Ensembles sind bemerkenswert, die künstlerischen Leistungen ebenso! Seit 2019 verantwortet sie Andreas Felber, gebürtiger Schweizer und zur Zeit auch Professor für Chorleitung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Geballte Sachkompetenz also, die den Abend in Greifswalds Dom zu einem beeindruckenden künstlerischen Erlebnis werden ließ.
Das begann mit einer vom Bachwochenorchester begleiteten Bach-Kantate, der sich ein vielfältige stilistische wie sängerische Facetten präsentierendes a-cappella-Programm anschloss.

Hinsichtlich der Kantate „Tilge, Höchster, meine Sünden (BWV 10834) muss von einer attraktiven Besonderheit gesprochen werden. Und von einem anderen Komponisten! Denn Bach hat hier Giovanni Battista Pergolesis (1710-1736) schon seinerzeit berühmtes, von großen komponierenden und theoretisierenden (meist deutschen) Zeitgenossen heiß, aber auch kontrovers (Stil) beurteiltes „Stabat mater“ (1736) zu einer eigenen Kantate bearbeitet (um 1745/47). Heißt: eine gereimte Nachdichtung des 51. Psalms als neuer, nunmehr deutscher Text, Änderungen in der Satzfolge, Hinzufügen einer Violastimme. Und damit, so von Herausgeberseite heute zu lesen: Umwandlung einer lateinischen Marienklage in einen deutschen Bußpsalm. Andere erkennen in der Bearbeitung eine „berührende Horizonterweiterung“ oder gar eine „ideale musikalische Ökumene“. Auch von einem Beweis für Bachs Gespür und Affinität für neue, italienische (neapolitanische) Modernität ist die Rede…

Wie dem auch sei, die Hannoveraner präsentierten im Verbund mit dem Kammerorchester der Bachwoche, den stimmlich glänzend aufgelegten und die Gefühlslagen Pergolesis genau treffenden Solistinnen Jacoba Arekhi-Putensen, Sopran, und Lea Martensmeier, Alt, eine in allen Belangen eindrucksvolle Aufführung. Denn Pergolesi/Bach hat bis heute nichts von seiner gerühmten, im Vokalen lediglich auf Sopran und Alt gründenden klanglichen und emotionalen Faszination eingebüßt. Und wenn sich, neben den Solisten, genau darum rund 50 gut augebildete Frauenstimmen kümmern, sind diverse Gänsehautmomente sicher! Viel Zartheit, viel Intimität, elegisch Schmerzliches und Tröstliches. Alles in purem Wohlklang, wirksam gesteigert mit dem Auskosten schneidender Dissonanzen. Eine Haltung größter Trauer und Demut in Schlichtheit und Naivität, die damals wie heute eigentliche Wirkungsfaktoren sind, aber eben auch – ebenso überzeugend von Chor und Solistinnen präsentiert – kunstvollere und energischere Formen vokalen Agierens einbeziehen.

War man gestalterisch und singtechnisch mit der vielsätzigen Kantate in gewisser Weise festgelegt, konnte man nun im zweiten, dem a-cappella-Teil zeigen, was der Chor sonst noch so drauf hat. Und das ist nicht wenig! Von Mendelssohn („Hebe deine Augen auf“) und Reger („Im Himmelreich ein Haus steht“) abgesehen, stand dieser Teil ganz im Zeichen älterer und neuer zeitgenössischer Sing- und Gestaltungstechniken. Mit Kompositionen von Tine Bec (*1993), Gion Balzer Casanova (*1938), Knut Nystedt (1915-2014), Arvo Pärt (*1935), Martin Smolka (*1959) und Rihards Dubra (*1964) war eine große Bandbreite musikalischer „Sprachen“ gesichert. Dies in jenen auch international üblichen und bewährten Ausführungen, die ohne chorischen Avantgardismus auskommen und ihre große, teils großartige Wirkung noch immer und sehr gekonnt aus der Synthese traditioneller Klangvorstellungen mit weitgehend freier tonaler und formaler Gestaltung beziehen; inbegriffen ein kompositorisches Denken, das oft vom rein Klanglichen bestimmt scheint. Da ist man dann als Ausführender auf interpretatorisch so spannenden wie anspruchsvollen Pfaden unterwegs, sieht sich allerdings auch verpflichtet, dafür das notwendige Verständnis samt handwerklichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu besitzen. Für die Hannoveraner kein Problem!

Man agierte mit erstaunlicher Souveränität. Die Stimmen bestens geschult, das chorische Klangbild stimmig austariert und klanglich von außerordentlichem Reiz, hatte man keine Probleme mit langen Spannungsbögen, einem ausgeprägten Gefühl für feinste dynamische Abstufungen sowohl des Einzeltons als auch größerer Passagen. Inspiriert wirkende Lockerheit, Elastizität der Tongebung und mitreißende Lebendigkeit gehörten ebenso zum Repertoire wie die Selbstverständlichkeit, mit der schwierigste harmonische „Klangfelder“ – gelegentlich die Sphäre des immateriell Scheinenden ereichend – intonatorisch fabelhaft installiert und zu größter klanglicher Wirkung geführt wurden. Schließlich wusste man auch „modern“ zu improvisieren – etwa eingangs als Begrüßung mit und zu einem Bach-Choral, und natürlich – man ist schließlich jung – fehlten die auflockernden Bewegungsmuster heute üblicher Chorpraktiken nicht.
Für alle diese Aspekte gab es in den einzelnen Werken – hier nicht detaillierter zu besprechen- hörenswerte Angebote. Wie denn der gesamte Abend sehr eindrucksvoll zur Demonstration schon professionell wirkender Chorkunst geriet; geschuldet auch dem Dirigenten Andreas Felber, unter dessen unaufdringlich-souveräner Leitung ein künstlerisch sehr beeindruckender Bachwochenauftakt gelang!
Titelfoto © Geert Maciejewski